Franz Schubert gehört zu den Hausheiligen des Dirigenten Mario Venzago. Ihm hat er nun einen besonderen – allerdings auch umstrittenen – Dienst erwiesen.
Rolf App
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Mario Venzago ist der mit Abstand eigenwilligste Schweizer Dirigent. Immer wieder macht der Chefdirigent und künstlerische Leiter des Berner Sinfonieorchesters mit Projekten auf sich aufmerksam, die einzigartig sind. Und nicht selten steht ihm dabei ein Klangkörper zur Seite, der sich seit jeher auf das Besondere spezialisiert hat. 1926 vom Dirigenten und Mäzen Paul Sacher als Basler Kammerorchester gegründet, funktioniert das heutige Kammerorchester Basel nicht wie ein gewöhnliches Orchester. Es hat keinen Chefdirigenten, und seine Musiker sind nicht fest angestellt. Sie stossen von Fall zu Fall hinzu. Im Zentrum der Konzerte steht die Musik des Barock, gespielt wird auf Originalinstrumenten. Doch reicht das Interesse weit über diese wichtige Epoche der Musikgeschichte hinaus.
Mit dem Kammerorchester Basel hat Mario Venzago nun ein Projekt verwirklicht und soeben als CD herausgebracht, das ihn lange beschäftigt hat. «Schon immer konnte ich nicht glauben, dass sich Franz Schubert 1822 an seinen Kompositionstisch gesetzt hat, um eine unvollendete Sinfonie zu schreiben», erklärt er. Für ihn sei «völlig klar, dass zwei Sätze dieser Sinfonie verloren gegangen sind», die die Welt seither als die «Unvollendete» kennt und liebt. Aber er habe es daneben für ebenso unwahrscheinlich gehalten, «dass sich Partituren eines der grössten Komponisten aller Zeiten einfach in Luft auflösten».
Man muss, um Venzagos detektivische Gedankengänge verstehen zu können, ein wenig nachvollziehen, in welcher Situation sich der 25-jährige Franz Schubert befindet, als er seine siebte Sinfonie in h-Moll komponiert. Er lebt zu dieser Zeit in einfachen Verhältnissen und meist bei Freunden, mit denen er gern musiziert – und die ihn nach Kräften zu fördern suchen. Durchaus mit Erfolg. Eine gewisse Bekanntheit verdankt Schubert den vielen Liedern, die er bereits komponiert hat. Aber er will mehr. Vor allem will er vom Komponieren leben können.
Seine Heimatstadt Wien steckt derweil tief im Rossini-Fieber, Opern sind gefragter denn je – neue Opern. Während die kunstinteressierte Öffentlichkeit nach deutschen Opern verlangt, haben an den führenden Theatern Italiener das Sagen. Der Leidtragende heisst Franz Schubert. Er komponiert Oper um Oper. Nachdem ihm mit den «Zwillingsbrüdern» und der «Zauberharfe» in einem leichteren Genre kein Durchbruch gelingt, verlegt er sich auf die grosse ernste Oper. Doch auch «Alfonso und Estrella» schaffen es nicht auf die Bühne. Seine Hoffnungen ruhen auf der heroisch-romantischen «Fierrabras». Doch als Carl Maria von Webers «Euryanthe» durchfällt, geht gar nichts mehr. Ähnlich erfolglos ist Schubert nur auf einem andern Gebiet: bei den Sinfonien.
Es ist dieser – bis heute – unterschätzte Schubert, dem Mario Venzagos Sympathie und Interesse gilt. «Je älter ich werde, desto mehr fasziniert mich der unbekannte Schubert, der Opernkomponist und Sinfoniker», sagt der 69-jährige Dirigent. «Dass Schubert der wohl grösste Liedkomponist aller Zeiten ist und ein genialer Kammermusikautor, ist unbestritten. Wer aber kennt seine unvorstellbar dramatischen, hinreissenden Opern?» Im Essay, mit dem Venzago seine Rekonstruktion der «Unvollendeten» im Booklet zur CD begründet, verknüpft er das Verschwinden zweier Sätze der h-Moll-Sinfonie mit Schuberts Opernplänen, wobei er das Spekulative kursiv setzt. Dass er zu Mutmassungen greifen muss, hat damit zu tun, dass man so wenig über den Entstehungsprozess dieser Sinfonie weiss. Weshalb es auch jede Menge Theorien gibt, warum sie unvollendet blieb. Hatte ihr Schöpfer das Gefühl, mit nur zwei Sätzen sei alles gesagt und der in seinen ersten Takten noch vorhandene dritte sei überflüssig? Musste er die Arbeit nur unterbrechen, weil andere Aufträge wichtiger waren – jener zur «Wandererfantasie» etwa? So dass jene Partitur, die er dann seinem Grazer Freund Anselm Hüttenbrenner schenkte, deshalb erst 1865, weit nach Schuberts frühem Tod 1828, erstmals zur Aufführung gelangt ist?
Alles Unsinn, erklärt Venzago mit der ihm eigenen Entschiedenheit. Er konstruiert eine Geschichte, die durchaus eine gewisse Plausibilität hat und die zu seiner Rekonstruktion der «Unvollendeten» führt: Schubert kehrt 1823 von Graz zurück, als ihn der Intendant des Theaters an der Wien auffordert, rasch zum Schauspiel «Rosamunde» eine Bühnenmusik zu komponieren. Nach deren Aufführung wird er den Auftrag zu «Fierrabras» erhalten. Weil es rasch gehen muss, bittet Schubert Hüttenbrenner darum, ihm den vierten Satz seiner Sinfonie zu schicken – was, so Venzago, sowohl die Tonart wie den sinfonischen Duktus der «Rosamunde»-Musik erkläre.
Venzago geht deshalb bei seiner Vervollständigung der «Unvollendeten» den umgekehrten Weg und bedient sich bei «Rosamunde». Als kleine private Visitenkarte fügt er gegen Ende des letzten Satzes noch einmal jenes Thema des ersten Satzes ein, der mit seiner inneren Unruhe und schroffen Abbrüchen einen Neuanfang in Schuberts sinfonischem Schaffen bedeutete.
Darf man das überhaupt, die «Unvollendete» vollenden? «Schuberts ‹Unvollendete› war ja fertig», antwortet Mario Venzago – im Unterschied etwa zu Mozarts «Requiem», zu Mahlers zehnter und Bruckners neunter Sinfonie. Kritiker werfen ihm vor, «Instrumentierungen und Zusammenhänge eigenmächtig verändert zu haben». Er selber fordert die Musikliebhaber auf, «einfach meine Version anzuhören und zu spüren, ob ihn das berührt. Nur grosse Musik berührt. Das wäre dann ein Echtheitsbeweis, der mir mehr bedeutet.»
Man sieht: Mario Venzagos Eigensinn lebt. Und es lohnt sich, seinem Rat zu folgen und einen partiell neuen Schubert kennen zu lernen.