Seinen Lebensthemen bleibt John Irving auch in «Strasse der Wunder» treu: Es geht um Aussenseiter, Wunderkinder, kaputte Familien, den Katholizismus und um Sex. Ein saftiger Schmöker, üppiges Lesefutter für Fans.
Johannes von der Gathen, dpa
Er zieht uns sofort mitten hinein ins pralle Leben: Der leidenschaftliche Fabulierer John Irving erzählt in seinem vierzehnten Roman von zwei hochbegabten Kindern, die auf einer Müllkippe im mexikanischen Oaxaca leben.
1970: Der 14-jährige Autodidakt Juan Diego liest pausenlos ausrangierte Bücher und spricht zwei Sprachen fliessend, während seine ein Jahr jüngere Schwester Lupe Gedanken lesen kann. Beide befinden sich in der Obhut des menschenfreundlichen Jesuitenpaters Pepe und ihres Ersatzvaters Rivera, weil ihre Mutter Esperanza wenig Zeit hat. Sie arbeitet als Prostituierte und geht im Nebenjob bei den Jesuiten putzen.
Vierzig Jahre später erinnert sich der Vielleser Juan Diego, inzwischen ein weltberühmter US-Schriftsteller, in einer Reihe von Träumen während einer Flugreise an seine bizarr-turbulente Jugend zwischen brennendem Müll, blutenden Marienstatuen und prügelnden Kleinganoven. Die Müllkinder und ihre Sippe sind eine typische Irving-Familie: kaputt, verkracht und möglichst weit entfernt von jeder Normalität. Das Dysfunktionale ist die Domäne dieses vor allem in Europa sehr erfolgreichen US-Autors, der aus den skurrilsten Konstellationen seine tragikomischen Volten schlägt.
In der «Welt am Sonntag» gestand der seit einigen Jahren in Toronto lebende Irving: «Ich hatte grossen Spass an diesem Buch. Ich bin mir bewusst, dass Themen, die ich gerne wiederhole, jenen gefallen, die sie schon früher mochten.»
Irving kultiviert auf fast 800 Seiten seine ganz spezielle Art von magischem Realismus, der sich keinen Deut um Plausibilität schert. Aber die pittoresken Protagonisten bleiben trotz aller Detailversessenheit diesmal seltsam blass, obwohl um sie herum jede Menge los ist. Wir lernen einen Jesuitenpater mit schottischen Wurzeln kennen, den alle wegen seiner Hawaiihemden den «Papageienmann» nennen. Der verliebt sich unsterblich in einen Transvestiten, während die Müllkinder als Kuriositäten in einem Zirkus auftreten. Ein wenig funktioniert Irvings Buch selber wie eine Aufführung in der Manege: Alle paar Minuten gibt es eine neue Attraktion.
Die breit ausgewalzte Rahmenhandlung um den gefeierten Schriftsteller Juan Diego spielt 2010 und wirkt einigermassen abstrus. Der Starautor schluckt Betablocker, um sich zu beruhigen, und Viagra, um auf Touren zu kommen. Zwei «Literatur-Groupies», Mutter und Tochter, verführen den Büchermann im Luxushotel. Beim Sex mit der Tochter stöhnt diese im altmexikanischen Dialekt.
Und es passiert noch sehr viel mehr. Der Plot von «Strasse der Wunder» mäandert zwischen den Kontinenten, unzählige Hunde streunen durch die 32 Kapitel, Blut- und andere Körperflüssigkeiten fliessen in Strömen. Die haarsträubenden Geschichten von den beiden Müllkindern sind das Beste an diesem Buch. Juan Diego und Lupe füllen Rote-Beete-Saft in ihre Spritzpistolen, lauern Touristen auf und reklamieren ein Blutwunder, für das sie dann etwas Geld einsacken. Ideen muss man haben. John Irving hatte diesmal vielleicht einfach zu viele.
Bewertung: 3 von 5 Sternen
John Irving: Strasse der Wunder. Diogenes, 784 Seiten, Fr. 26.40.