In Bild und Ton: Rückschau ins zaristische Russland

Ein musikalisch-visuelles Projekt zwischen Luzern und Moskau gibt Einblick ins Leben der letzten Zarenfamilie.

Pirmin Bossart
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Visualisierung aus dem Werk «Abzug – in lingua mortua». (Bild: PD/Monika Müller)

Visualisierung aus dem Werk «Abzug – in lingua mortua». (Bild: PD/Monika Müller)

Bereits zum dritten Mal arbeitet der Luzerner Musiker und Komponist Thomas K. J. Mejer mit dem Moscow Contemporary Music Ensemble zusammen. «Nach dem letzten Projekt haben mich die Musiker gebeten, unbedingt wieder etwas mit ihnen zu realisieren», freut sich Mejer, der zurzeit im Landis & Gyr Atelier in London arbeitet.

Bei der neusten Produktion «Abzug – in lingua mortua» ist auch die Luzerner Künstlerin Monika Müller dabei. Diesen Oktober wurde die Produktion dreimal in Russland gezeigt, jetzt gelangt sie in Boswil, Biel und Luzern zur Aufführung.

«Abzug» wirft ein Streiflicht auf das alte Russland. Eine thematische Linie bilden die Fotos des Waadtländers Pierre Gilliard. Er hatte als Französischlehrer der Zarenkinder in St.Petersburg gelebt und als Hobbyfotograf das Leben des Hofes dokumentiert. «Hunderte dieser Fotos lagern in der ‹Bibliothèque Cantonale et Universitaire› in Lausanne, wohin Gilliard nach der bolschewistischen Revolution zurückkehrte», sagt der Luzerner Musikwissenschaftler Peter Bitterli, der für Mejer und das Moskauer Ensemble schon mehrere Projekte konzipierte.

Bitterli hatte Mejer auf diese Fotoserie aufmerksam gemacht und den Input gegeben, den Zyklus «Tableaux d’une Exposition» (1874) von Modest Mussorgsky musikalisch ins Projekt zu integrieren. Dem Bilderzyklus zur Familienbiografie, die mit dem Tod der gesamten Zarenfamilie endet, entspreche der Bilderzyklus des alten Russlands von Mussorgsky, sagt Bitterli, «in welchem sich eine gebildete Schicht Ausstellungen mit Skizzen aus und Fantasien über ein Europa ansah, zu dem sie sich zugehörig fühlte. Mussorgsky schliesst mit einem Hymnus auf genau das Russland, das mit den Schüssen auf die Zarenfamilie für immer untergeht.»

Russisches Ensemble sorgt für musikalisierte Bilder

Entstanden ist ein vielschichtiges Werk, das mit musikalischen und visuellen Überblendungen lebt und das Publikum in die Zeit der letzten Zarenfamilie vor der russischen Revolution versetzt. Auf der musikalischen Ebene hat Thomas K. J. Mejer zum einen Mussorgkys Werk «Tableaux d’une Exposition» – das Rockmusik-Liebhaber zumindest in der Version «Pictures of an Exhibition» von Emerson Lake & Palmer kennen – für das Moscow Contemporary Music Ensemble arrangiert und zugeschnitten.

Das russische Ensemble ist ein Sextett mit Saxofon, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier. Das Original von Mussorgsky ist für Klavier komponiert. 1922 gab es eine Version von Ravel für ein Symphonieorchester. «Also hatte ich die Herausforderung, für dieses Ensemble Arrangements zu schreiben, die qualitativ mithalten können», schmunzelt Mejer.

Zum anderen integrierte er Eigenkompositionen in den Flow der musikalisierten Bilder. Mejer ist ein Spezialist für organische Rhythmen, prägnante Klänge und den Einbezug von Geräuschen. Mal hat er sich von Mussorgsky inspirieren lassen, dann wieder sind eigene Ideen in den Zyklus eingeflossen.

Intensiv mit der Umbruchszeit in Russland beschäftigt hat sich auch Künstlerin Monika Müller. Nur so konnte sie bestimmte Zusammenhänge und Assoziationen in ihrer Bildsprache einfliessen lassen. So wird der Gnomus von Mussorgsky zu Rasputin, der beim Niedergang der Zarenfamilie eine wichtige Rolle spielte. Andernorts stellt sie eine Verbindung her zwischen dem Foto, auf der die Zarenfamilie ein Iglu baut, und dem Bild «Baba Jaga, oder die Hütte auf Hühnerfüssen», das die entsprechende Mussorgsky-Komposition inspirierte.

Verbindung zwischen Bild und Ton gesucht

In präziser Dramaturgie hat die Künstlerin mit Gilliard-Fotos und eigenen Zeichnungen die visuelle Ebene gestaltet. «Ich suchte eine feine Verbindung zwischen dem Bild und dem Ton», sagt Müller. «Ich wollte die Bildprojektion wie ein weiteres, leises Instrument einfliessen lassen. Mir war wichtig, die Zeitdokumente der Fotos zur Wirkung zu bringen, ohne die Aufmerksamkeit für die Musik zu schmälern.» Deswegen versuchte sie, Stimmungen, Rhythmus und Tempo mit Montagen und sich überblendenden Wechseln auf die Entfaltung der Kompositionen abzustimmen.

Um dem Live-Ereignis mit seinen zeitlichen Unebenheiten gerecht zu werden, steuert Perfektionistin Monika Müller die visuelle Ebene von Hand. Sie war in den Proben immer dabei. «Mit der Zeit habe ich alle meine Einsätze auswendig gelernt. Nur so konnte ich erreichen, dass gewisse Sequenzen, die vom Timing her einfach stimmen müssen, genau so ablaufen.»

Hinweis: «Abzug – in lingua mortua»: 7. November, 20 Uhr, Künstlerhaus Boswil; 9. November, 20 Uhr, Neubad Luzern.