Das Sarner Jesuskind wird von vielen verehrt. Selbst auf weniger gläubige Menschen übt die kleine Figur eine grosse Anziehung aus. Diese Faszination ist eine menschliche Kraftquelle.
Andreas Faessler
1964 bebte die Erde heftig in der Zentralschweiz. Zahlreiche Gebäude trugen schwere Schäden davon, auch die Kirche des 1615 erbauten Benediktinerinnenklosters St. Andreas in Sarnen. Sie musste grösstenteils abgetragen und durch einen Neubau ersetzt werden. So bedauerlich der kunsthistorische Verlust gewesen sein mag, so geglückt ist der moderne Neubau: Es ist ein stimmungsvoller, hoher Raum mit hölzerner Dachkonstruktion und freundlichen weissen Wänden. Die moderne Ausstattung lebt durch ihre zurückhaltende Ästhetik. Einer der grossen Vorteile dieser formschönen Schlichtheit: Der wertvollste Schatz des Klosters kommt in dieser reduzierten Umgebung ganz besonders stark zur Geltung – aus einer exponierten Vitrine mitten im Kirchenraum schaut dem Hereinkommenden das berühmte Sarner Jesuskind entgegen. Die Holzfigur stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist seit seiner Entstehung in Obhut der Obwaldner Benediktinerinnen.
«Unser Jesuskind zieht täglich Pilger von nah und fern an», sagt Sr. Rut-Maria Buschor. Die gebürtige Ostschweizerin ist die Zweitjüngste im Kloster. Vor 23 Jahren trat sie in den Orden ein und hatte zu jenem Zeitpunkt noch nie vom Sarner Jesuskind gehört. Schnell aber stellte sie fest, welch grosse Bedeutung die kleine Figur für viele Menschen hat. «Spannend dabei ist, dass die Verehrung der Figur oft über Generationen gepflegt wird. So finden selbst Leute den Weg hierher, die vielleicht nicht mehr viel mit der Kirche zu tun haben. Aber weil die Eltern oder Grosseltern ihnen vom ‹Jesuschindli› erzählt haben, wollen sie es auch besuchen.» Sr. Rut-Maria räumt ein, dass sie selber weniger einen spirituellen Bezug zum Sarner Jesuskind habe. Für sie sei es aber erbauend zu sehen, wie die vielen Pilger sich der Statue anvertrauen. «Für mich ist der starke Glaube der Besucher eine Kraftquelle, weniger die Figur selbst.» Die Ordensfrau weiss von zahlreichen Menschen zu berichten, die an der Pforte über ihre Erfahrungen reden. Am meisten fasziniert habe sie der Mann, der an einem schwer heilbaren Ausschlag litt und einmal vor dem Regen in die Klosterkirche floh und dort das Jesuskind sah, von dem er noch nie was gehört habe. «Ohne Erwartungen betete er zum Jesuskind. Kurz darauf wurde der Mann geheilt», erzählt die Benediktinerin. Oder erst neulich berichtete ein Ostschweizer Ehepaar an der Klosterpforte von einer Rettung, welche die beiden dem Sarner Jesuskind zuschreiben (mehr hierzu im Video; siehe Filmtipp am Ende des Textes). «Solche Geschichten sind rührend», sagt Sr. Rut-Maria.
Die Ausstrahlung der kleinen Holzfigur mit dem angewinkelten Bein und der darauf abgesetzten Weltkugel ist immens. Und für viele Menschen ist sie so bedeutend und anziehend, dass sie das Sarner Jesuskind am liebsten stets in der Nähe hätten. «Vor allem viele ältere Gläubige haben ein Bild vom Jesuskind zu Hause», weiss Sr. Rut-Maria und erwähnt auch die zahlreichen Anrufe, Briefe oder E-Mails von Menschen, die ihre Bitten dem Jesuskind vorgetragen haben möchten, weil sie gerade keine Möglichkeit haben, persönlich nach Sarnen zu kommen. Früher hat man im Kloster sogar kleine Wachskopien der wundertätigen Statue angefertigt.
Und als die Originalfigur für einen «Fototermin» einmal aus der Kirche entfernt und mit einer Kopie ersetzt wurde, standen innert Kürze Menschen an der Pforte und fragten besorgt, wo das Jesuskind sei, erinnert sich Sr. Rut-Maria. Die Aura des Originals lässt sich eben nicht kopieren.
Trotz all dieser Anziehung und Mystik: Im Frauenkloster St. Andreas findet hier eine stille Wallfahrt statt. Es strömen nie grosse Pilgerzüge ins Kloster im Herzen des Obwaldner Hauptortes. Aber während der Öffnungszeit der Klosterkirche sitzt fast immer jemand in den Bänken zu Füssen des Jesuskindes, still für sich betend. Selbst Schüler, die auf dem Weg vom Sarner Bahnhof zur Kantonsschule sind, werfen gerne mal einen Blick in die Klosterkirche auf die kleine Statue oder zünden eine Kerze an.
Das Kloster St. Andreas besitzt mehrere Kleidchen für das Jesuskind. Das älteste und kostbarste ist der Überlieferung zufolge ein Geschenk von Königin Agnes von Ungarn aus dem Jahre 1364. Die Klosterfrauen bekleiden die Figur über das Jahr hinweg in den liturgischen Farben. Derzeit ist das Kleidchen grün. Grün steht für die Jahreszeit, in der kein hohes Kirchenfest stattfindet. Bald aber wird ihm Violett angezogen – der Herbst verblüht, die Adventszeit naht.
HINWEIS
Anlässlich des Jubiläums 400 Jahre Kloster St. Andreas lässt Schauspielerin Jutta Hoppe die Mystikerin Hildegard von Bingen lebendig werden. Samstag, 28. November, 19.30 Uhr in der Klosterkirche. Ausserdem gibt es am Samstag, 21. November 14 Uhr, die letzte öffentliche Führung dieses Jahr.