Der neue Chefdirigent des London Symphony Orchestra, Simon Rattle, stellte sich nicht nur als Klangzauberer, sondern auch als Dirigent mit ausgeprägtem Theaterinstinkt vor.
Der Übergang von den Berliner Philharmonikern zum London Symphony Orchestra vollzog sich für Sir Simon Rattle problemlos, wie die beiden Auftritte am Montag und Dienstag zeigten. Es muss ihn gereizt haben, die Werke der beiden Luzerner Programme, die er alle mit den Berliner Philharmonikern aufgeführt und auch aufgenommen hat, mit dem Hausorchester der Barbican Hall einzustudieren. Denn dieses besitzt bereits die von Rattle gewünschte Flexibilität kraft seiner Tätigkeit, die über das klassische Repertoire hinaus bis zu Film- und Popmusik und zum Förderungsprojekt LSO Discovery reicht.
Als besonderer Glücksfall erwies sich am Ravel-Abend die Wahl von «L’Enfant et les Sortilèges», weil es ideal wie kein anderes Werk in das diesjährige Festival mit dem Motto «Kindheit» passte. Mit dieser «Fantaisie lyrique» auf ein Märchen-Libretto von Colette hat Maurice Ravel ein unvergleichliches Meisterwerk geschaffen, das erstmals überhaupt in Luzern erklang.
So präsentierten sich am Montag neben dem grossbesetzten Orchester der fast 100-köpfige London Symphony Chorus auf der Orgelempore und vorne an der Rampe acht verschieden gekleidete Singschauspieler. An ihrer Spitze die Mezzosopranistin Magdalena Kozena als das ungezogene Kind, das die Schulaufgaben verweigert und mit Stubenarrest bestraft wird.
Köstlich, wie die Gattin des Dirigenten als gelangweilter Lausbub lümmelhaft dastand und dann mit seinem Wutanfall das Zerstörungswerk auslöst. War das dieselbe, die kurz vor der Pause noch als priesterhaft gekleidete Sängerin mit sehnsüchtiger Emphase die drei Lieder «Asie», «La flute enchantée» und «L’indifférent» der «Shéhérazade» auf Gedichte des Wagner-Bekenners Tristan Klingsor gesungen hatte? Mit einer Stimme, die ihr natürliches Timbre bewahrt hat und bis in die Sopranregionen expressiv gerundet war.
Simon Rattle dirigierte Orchester und Chor mit Hingabe. Und dazu so präzis und mit so viel Biss, dass vor allem im zweiten Teil auch die neuen, gehärteten Züge der 20er-Jahre zum Ausdruck kamen. So nahm man das Stück wie einen Vorläufer des amerikanischen Musicals wahr.
Es ist kein Klavierkonzert und auch keine Sinfonie. Was ist es denn? Ein Konglomerat aus beidem. Auch wenn man «The Age of Anxiety», wie Leonard Bernstein seine zweite Sinfonie betitelte, näher anschaut und sie, wie beim zweiten Auftritt von Simon Rattle und dem London Symphony Orchestra, im Konzertsaal hört, bleiben Zweifel, ob das ein Werk ist, das als Ganzes bestehen kann. Aber es gibt berührende Momente, so wenn die beiden sich elegisch umschlingenden Klarinetten zu Beginn so ergreifend spielen, dass man tatsächlich die Einsamkeit der vier Menschen spürt, die sich – als Vorbild diente Hoppers Gemälde «Nachtschwärmer» – in einer Bar treffen.
Die Inspiration für die 1947–49 komponierte Musik fand Bernstein in dem zwischen 1944 und 1947 entstandenen gleichnamigen Gedicht von W. H. Auden, das die Orientierungslosigkeit der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrückt. Spektakulär, ja aufregend ist das «Maskenspiel», das in die Wohnung der vier Menschen führt und mit seinen Jazz-Anleihen den speziellen Geist des Werks besonders trifft. Hier hätte man sich noch mehr Swing vorstellen können, als ihn Krystian Zimerman am Klavier und Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra entfachten, damit der angestrengte Charakter dieser Party zum Ausdruck käme. Immer dort, wo das Werk ruhigeres Gefälle erreicht, beeindruckte Zimerman durch seinen kontrollierten und differenzierten Anschlag.
Nach der Pause huldigte Rattle seiner Liebe zur osteuropäischen Musik mit den Slawischen Tänzen op.72 von Antonin Dvorák und der «Sinfonietta» von Leos Janáček. Die ganze zweite Folge der Slawischen Tänze wurde geboten, die abwechseln zwischen Melancholie und ungestümer Lebensfreude, aber den eigentlichen Höhepunkt des Konzerts doch etwas gar hinauszögerten.
Mit der «Sinfonietta» von Leoš Janáček stand zu Recht das absolute Meisterwerk am Schluss. Mit einer Radikalität sondergleichen hat der 71-Jährige diesen Hymnus an die Freiheit und die tschechische Heimat komponiert, wobei in erster Linie die Blechbläser-Fanfaren mit den Pauken-Schlägen ins Ohr stachen und das Werk zu einem grandiosen Finale führten. Zum Glück schenkten Rattle und sein Orchester auch den Feinheiten wie im Notturno des dritten Satzes die gebührende Aufmerksamkeit und boten eine Orchesterdemonstration allererster Güte.