Das Luzerner Theater verlegt Tschaikowskys «Nussknacker»-Märchen in den UG-Keller: Choreograf Kinsun Chan über ein Spiel mit Realismus, Nostalgie und Publikum.
Kinsun Chan, Tschaikowskys «Nussknacker» ist ein Weihnachtsmärchen par excellence, wie das Luzerner Theater in der Ankündigung Ihrer Produktion «Nuts!» schreibt. Aber diese verlegt das Märchen ins UG. Ist das nicht eine Art Etikettenschwindel?
Kinsun Chan*: Nein, ich denke, gerade die Wahl des UG als Aufführungsort und der Titel machen klar, dass das keine konventionelle Tutu-Version dieses Ballettklassikers ist. Da wird niemand mit falschen Erwartungen ins UG kommen.
Wieso benutzen Sie überhaupt Tschaikowsky als Vorlage und machen nicht einfach ein neues Stück?
Chan: Wer den «Nussknacker» nicht kennt, kann das tatsächlich wie ein zeitgenössisches Tanzstück zu Musik von Tschaikowsky anschauen. Aber das Spiel mit einer so bekannten Vorlage hat seinen ganz eigenen Reiz. Es bekommt eine zusätzliche Ebene, weil jeder Witz quasi eine doppelte Pointe erhält, wenn man die Vorlage kennt. Bei Klassikeradaptionen ist generell spannend, wie dadurch Aktualität und Vergangenheit zueinander in Beziehung gesetzt werden. Das ist auch ganz konkret das Thema meines Stücks.
Inwiefern?
Chan: Der «Nussknacker» spielt ja an einem märchenhaften Heiligabend, und da spielen die Kinder um Klara und ihren Bruder Fritz eine zentrale Rolle. Wenn sich Klara, ausgelöst durch das «Nussknacker»-Geschenk des Familienfreunds Drosselmeyer, in eine Traumwelt hineintanzt, ist das wie ein Vortanzen. Und man kann sich fragen, was später aus den Kindern und ihren Träumen geworden ist. Haben sie Karriere gemacht? Sind sie glücklich? «Nuts!» stellt solche Fragen, indem es die Geschichte 20 Jahre später weiterspinnt – eben im Spannungsfeld zwischen einer nostalgisch verklärten Vergangenheit und dem Hier und Jetzt.
Den Sprung auf die grosse Bühne haben Klara und Fritz demnach nicht geschafft?
Chan: Nein, die Wahl des Spielortes und die Idee zum Stück haben sich gegenseitig beeinflusst. Drosselmeyer ist bei uns der Besitzer einer Bar mit kleinem Theater, eben des UG, Klara sitzt zu Beginn an der Kasse, Fritz arbeitet als Kellner. Ich konzentriere mich auf diese drei Charaktere und deren Schicksale.
Und da gibt es dennoch Platz für Märchenhaftes, wie man es von einem «Nussknacker» so oder so erwartet?
Chan: Klar! Der Abend beginnt zwar ganz realistisch und prosaisch mit einer Party, zu der auch das Publikum eingeladen ist: Gespielt wird zuerst an der Bar, mitten unter den Zuschauern. Erst im zweiten Teil nehmen die Zuschauer ihre Plätze ein, wenn der Vorhang aufgeht und auf der Bühne das Stück im Stück beginnt. Als Klara zufällig ins Geschehen auf der Bühne gerät, begegnet sie in der Aufführung den Träumen von damals wieder und entdeckt im nostalgischen Rückblick eine neue und vielleicht eine ganz andere Art von Schönheit und Glück.
Die Platzverhältnisse im UG sind eng. Wie bringen Sie da neben 14 Tänzern auch noch eine Party unter?
Chan: Natürlich ist das eine Herausforderung, aber es ist auch ein Reiz dieses Spielortes. Im UG wirkt jede Bewegung gross und hat starke Präsenz. Das nutzen wir im Spiel an der Bar. Hier kann man mit kleinsten Gesten arbeiten (Chan zwinkert mit einem Auge, schnippt mit den Fingern, verzieht den Mundwinkel). Gesten, die man auf einer grossen Bühne kaum wahrnehmen würde und die da sicher keine Wirkung entfalten. Im Gegensatz dazu ist in «Nuts!» das Geschehen auf der Bühne tänzerisch gestaltet, wenn auch nicht mit den klassischen Schritten der Vorlage.
Trotzdem wird schon an der Party getanzt. Auf einem Video zeigen Sie sogar Tanzschritte, damit Zuschauer das lernen und mitmachen können. Das sieht ziemlich stressig aus.
Chan: Die Idee ist nicht, dass die Leute diese Sequenzen genau im Kopf haben und reproduzieren können. Es geht mehr darum, dass das Publikum ein Teil der Energie wird, die das Spiel an der Bar entfaltet. Es gehört zum Realismus dieses ersten Teils wie die Tatsache, dass die Tänzer da im Alltagslook erscheinen und von den Zuschauern nicht zu unterscheiden sind. Es wäre deshalb cool, wenn einige mitmachen würden: Es ist ein Experiment, das ich noch nie gemacht habe und das genau in dieses Stück passt.
Das gilt an diesem Abend auch für die Musik Tschaikowskys, die der Luzerner Komponist Daniel Steffen arrangiert hat. Wie weit kann man da das Original noch erkennen?
Chan: Sehr stark, Tschaikowskys Musik ist ja von unglaublicher Schönheit. Vieles davon erklingt, wenn auch in anderer Reihenfolge, als Orchestereinspielung ab Band. Gewisse Teile hat Steffen elektronisch zum Beispiel mit Alltagsgeräuschen verfremdet oder angereichert. Aber gegen Schluss tritt immer stärker das Original in den Vordergrund. Auch das gehört zum Spannungsfeld zwischen Aktualität und Nostalgie in diesem Stück.
Hinweis
Premiere: Fr, 13. Dez., 20 Uhr, UG des Luzerner Theaters. Vorstellungen: 20., 27., 29. Dez., 8., 9., 10., 11., 15. und 16. Januar. Vorverkauf: Tel. 041 228 14 14. Weitere Infos und das Tanz- lernvideo finden Sie auf: www.luzernertheater.ch * Der kanadisch-schweizerische Choreograf Kinsun Chan, der sein Alter auch auf Nachfrage nicht verraten will, war Tänzer bei Heinz Spoerli in Zürich und Richard Wherlock in Basel, bevor er sich als Choreograf international einen Namen machte. «Nuts!» ist nach «West Side Story» und (ebenfalls aktuell im Spielplan) «Kiss Me, Kate» die fünfte Choreografie für das Luzerner Theater.