Luzerner Sinfonieorchester setzt auf Sergei Rachmaninow als Vitamin-Booster

Die neue CD des Luzerner Sinfonieorchesters ist eine Standortbestimmung – auch mit Blick auf den künftigen Chef.

Urs Mattenberger
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Sergei Rachmaninow 1939 in der Villa Senar in Hertenstein an dem Flügel, der für die CD «Rachmaninoff in Lucerne» verwendet wurde.

Sergei Rachmaninow 1939 in der Villa Senar in Hertenstein an dem Flügel, der für die CD «Rachmaninoff in Lucerne» verwendet wurde.

Hans Sierat, J&M Productions

Grosssinfonische Weihen holen sich Orchester gerne mit dem russischen Repertoire zwischen Pjotr Tschaikowski und Dmitri Schostakowitsch. So setzte das Luzerner Sinfonieorchester bereits in den 1990er-Jahren schon mal Schostakowitsch aufs Programm, in der erklärten Absicht, im neuen Konzertsaal des KKL dereinst vermehrt in Grossbesetzungen aufzutreten.

Inzwischen hat es das von damals 50 auf heute 70 Stellen vergrösserte Orchester auf diesem Weg schon weit gebracht. Auch Chefdirigent James Gaffigan setzt dafür stark auf russisches Repertoire, weil dieses «ein Vitamin-Boost fürs Orchester» sei. Er und das Luzerner Sinfonieorchester legen jetzt mit der CD «Rachmaninoff in Lucerne» zwei Werke vor, an denen man das ermessen kann: Die Paganini-Variationen mit dem virtuos funkelnden Pianisten Behzod Abduraimov und die dritte Sinfonie, die beide in Rachmaninows Villa Senar bei Hertenstein entstanden sind.

Zwischen Kammer- und Grosssinfonik

Die Frage ist dabei, wie weit in grossen Besetzungen hörbar bleibt, dass das Luzerner Sinfonieorchester «aus einer kammersinfonischen Tradition» herkommt. Michael Sanderling hatte das nach seiner Wahl zum Chefdirigenten in Luzern ab 2021 als einen Vorzug des Orchesters bezeichnet. Und betont: «Es wird wichtig sein, das zu erhalten, wenn wir vermehrt in grösseren Besetzungen spielen.»

Messen kann man diesen Anspruch wiederum an aktuellen CD-Aufnahmen der Dresdner Philharmonie, mit der Sanderling – als Chefdirigent – sämtliche Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch eingespielt hat. Darunter die fünfte, die er vor einem Jahr als Gastdirigent mit dem Luzerner Sinfonieorchester mit viel Feinsinn und unplakativ zum Ereignis machte.

Bei allen Unterschieden zwischen den Komponisten ist ein Vergleich der beiden CD-Aufnahmen aufschlussreich. In den Rachmaninow-Aufnahmen des Luzerner Sinfonieorchesters fällt der Verzicht auf jegliche Opulenz auf. Das gilt zuerst für die Streicher, auch wenn sie, etwa in den Steigerungen des ersten Satzes, zu grossem Ton und schwelgerischer Leuchtkraft finden. Die dynamisch fein modellierten Holzbläser erhalten eine starke, mysteriös verschlungene Präsenz, Blechbläserakzente und rhythmische Entladungen bohrender Schärfe. So besticht die Aufnahme mit kammersinfonischen, gar kammermusikalischen Qualitäten (Hornsolo im zweiten Satz) und findet doch auch – wie im Finale – zum grosssinfonischen Rausch.

Rachmaninow ohne Bombast

Rachmaninow ohne Bombast: Das ist auch eine Interpretationsentscheidung von James Gaffigan. Wenn man russische Musik mit riesigen Orchesterapparaten überspiele, meint er, verpasse «man ihre funkelnd instrumentierten Momente».

Die Aufnahme von Rachmaninows dritter Sinfonie ist reich davon und bietet im schweifenden Verlauf doch zu dunkler «Dies irae»-Leidenschaft und grossen Spannungsbögen. Vor allem ist da eine Vitalität, die mit den glücklichen Lebensumständen Rachmaninows auf Hertenstein zusammenhängen mag, die das schön gestaltete Booklet auch mit vielen Fotos einfängt.

Diese Vitalität verdankt sich in den Paganini-Variationen der Leichtigkeit des Orchesterklangs wie dem quecksilbrig-agilen Spiel des Pianisten, aber auch der Brillanz des Flügels aus Rachmaninows Villa Senar, der hier erstmals für eine Aufnahme verwendet wurde. Von kaleidoskopisch aufgesplitterten Variationen über expressiv gedehnte «Liebesepisoden» (Rachmaninow) bis zum gespenstisch tosenden, virtuosen «Dies irae»-Taumel gehen diese Variationen grossartig über allen Tasten-Zauber hinaus ins Sinfonische.

Saftiger Dresdner Klang – ein Versprechen für Luzern?

Michael Sanderling will den Ausbau eines «saftigen» Repertoires in Luzern weiterführen. Das Wort trifft haargenau einen klanglichen Grundzug seiner Aufnahme von Schostakowitschs Fünfter mit der Dresdner Philharmonie. Verschwenderisch warm und doch fein gebündelt leuchten da die hohen Streicher, die Bässe geben ein machtvolles Fundament, der Klang wird – auch aufnahmetechnisch – mehr räumlich gerundet und in die Tiefe gestaffelt.

Deutlicher als der Luzerner Rachmaninow hat das grosssinfonische Dimensionen und wirkt doch nie bombastisch. Erstaunlich, wie feinkörnig Details wie bedrohliches Rascheln der Streicher auch da realisiert werden. Und Sanderling nutzt solche Detailschärfe, um die Doppelbödigkeiten des Werks ohne Effekthascherei zuzuspitzen und in grosse Klanglandschaften münden zu lassen.

Dass sich beide Aufnahmen, von verschiedenen Seiten her kommend, in der Grundhaltung treffen, verspricht eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Luzerner Orchesters über den Dirigentenwechsel hinaus.

Hinweis

«Rachmaninoff in Lucerne», Luzerner Sinfonieorchester, James Gaffigan (Sony); «Shostakovich: The Fifteen Symphonies», Dresden Philharmonie, Michael Sanderling (Sony).