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Juzerinnen, Jodelklubs und die stimmgewaltigen Gäste aus Georgien: Auf der Waldlichtung Gsang wurde noch nie so viel gesungen wie dieses Jahr. Dafür waren instrumentale Formationen rar.
Pirmin Bossart
Unter dem weit geschwungenen Zeltdach rauschen die Stimmen wie ein Wasserfall. Es ist der Menschengeräuschpegel des Publikums, das sich bei Speis und Trank einstimmt auf die 12. Ausgabe des Volkskulturfestes Obwald. Das makellose Wetter, die Naturkulisse und die Versammlung von ein paar hundert Menschen sind eigentlich schon Festival genug. Was jetzt noch kommt, ist (musikalische) Zugabe.
Milde beleuchtet das Abendlicht die Waldlichtung Gsang bei Giswil. Es ist warm und alles perfekt. Punkt 20 Uhr flacht der Stimmenpegel abrupt ab. Fabian «Hefe» Christen, technischer Leiter, begrüsst das Publikum und bittet den ersten Sänger auf die Bühne: Der Georgier Nikoloz Ivanashvili sieht mit seinem langen Gewand und der über die Schulter geschlagenen Kapuze aus wie ein Wandermönch, ein Waldbruder aus dem Kaukasus, ein ferner Freund des Eremiten vom Ranft.
Ivanashvilis Sologesang macht schnell mit den ungewohnten Tonalitäten bekannt, die alsbald und vielstimmig aus 14 Männerkehlen erklingen, nun, da der ganze Didgori-Chor in einer Linie auf der Bühne steht. Helle Stimmen, mittlere Stimmen, dunkle Stimmen, tiefste Stimmen, ein Meer aus Stimmen: Transparent überlagern und vermischen sie sich, manchmal klatschen die Sänger rhythmisch mit. Die polyfonen Gesänge klingen lebhaft, kraftvoll und keck, aber auch feierlich, tröstend, berührend.
Die Trachten der Chormitglieder wirken trutzig und mittelalterlich. Alle haben einen Dolch vorgehängt. Die Schulterpatten waren früher Steinschleudern, in den Brusttaschen hatte es Platz für Schiesspulver. Anmutiger sind die langen schwarzen und mit Silberbordüren verzierten Gewänder der drei jungen Sängerinnen aus Georgien, die mit dem Männerchor nach Obwald gereist sind. Auch sie haben Stimmen, die in unseren Ohren zugleich vertraut und fremdartig klingen.
Obwald-Leiter Martin Hess hat auch dieses Jahr mit seiner Leidenschaft und seinem Sinn für das Originäre über Youtube-Recherchen und persönliche Erkundigungen in Georgien musikalische Acts gefunden, mit denen er sein erfolgreiches Festivalmenü gestaltet. Dabei sucht Hess nie bekannte Namen oder jene, die besonders populär sind. Ihm geht es darum, das Besondere herauszuholen, das ein Gastland musikalisch auszeichnet und das im besten Falle Brücken schlägt zu den hiesigen Traditionen.
Mit dem polyfonen Gesang aus Georgien hat sich Hess erneut für eine Tradition entschieden, die gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Juz und dem Jodelgesang aufweist. Doch die stimmlichen Berg-und-Tal-Fahrten der Georgier scheinen mit ihren Tonartwechseln, Harmonien und Melodiemodulationen ungleich komplexer zu sein als die einheimischen Jodellieder, wie sie am Donnerstag etwa der Jodlerklub Bärgsee Lungern oder der Jodlerklub Echo Sörenberg mit Andacht und Inbrunst über die Bühne brachten.
Reizvoll war die Gegenüberstellung der Muotathaler Jodlerin Karin Gwerder und der georgischen Sängerin Tamar Zviadauri: hier die helle Stimme, die frohgemut und unschuldig über Bergwiesen und Felsen hüpft und am Schluss einen grellen Juizer in den Himmel entlässt, dort eine Stimme mit auch dunklen Tönungen, die eher geheimnisvoll und feierlich wirkt. Im zweiten Teil des Abends, der von der Nidwaldner Solojuizerin Petra Gander eingeleitet wurde, trat die junge Georgierin nochmals mit ihren Schwestern im Trio auf und interpretierte zwei Volkslieder.
Sosehr die verschiedenen Gesänge und vokalen Mehrstimmigkeiten einem das Herz rühren konnten und man die Ohren spitzte für die nuancierten Unterschiede zwischen den georgischen und den schweizerischen Traditionen: Mit der Zeit stellte sich trotz dramaturgisch gut gesetzten Wechseln und Konstellationen eine gewisse Einförmigkeit des Hörens ein.
Das traf vor allem auf den zweiten Teil des Abends zu, in dem ausschliesslich gesungen wurde, während im ersten Teil noch instrumentale Formationen dazukamen. Da gab es den Dreiklang mit der Ländlerkapelle Blum Blum Stierli aus Obwalden, der Ländlerkapelle Echo vom Schattenhalb aus dem Muotathal und dem Soloörgeler Markus Flückiger, die abwechselnd loslegten. Die Obwaldner Kapelle, mit einer Klarinette besetzt, überraschte mit einer eher dunklen und feierlichen Melodik.
Aber es war Markus Flückiger, der auf seinem Örgeli musikalisch auf- und davonzog. Technisch virtuos, mit einem durchgehenden Bass-Groove, aber auch dynamisch nuanciert und musikalisch souverän begeisterte er das Publikum. Flückiger sorgte kurz darauf im Trio Ambäck mit Andreas Gabriel (Geige) und Pirmin Huber (Kontrabass) für unseren persönlichen Höhepunkt des Abends. So erfrischend, auch von der Performance her, und musikalisch interessant haben wir schon lange keine Volksmusikformation mehr erlebt.
Am Ende der Darbietungen – längst war es Nacht geworden – standen alle Mitwirkenden gemeinsam auf der Bühne. Es war ein wunderbares Schlussbild, das die Essenz von Obwald deutlich machte: Menschen verschiedener Herkunft begegnen sich, erkennen vielleicht Eigenes im Fremden und umgekehrt, tauschen sich aus, erfahren Respekt. Die einheimischen Jodelklubs stimmten einen letzten Juz an, in den auch der georgische Chor mit tiefem Gesumme einstimmte. Nur wenig später standen hinter der Bühne die Muotathaler und ein paar Georgier zusammen und brachten einander ein paar Kniffe des Juizens und des mehrstimmigen Singens bei.
Hinweis: Volkskulturfest Obwald, Sonntag, 9. Juli, 11 bis 15 Uhr.