In der Nebenbühne UG fasziniert ein Trio bei der exzellenten Umsetzung von Stefan Zweigs «Der Amokläufer».
Die Schiffsglocke schlägt Mitternacht. In den engen Kabinen des Ozeandampfers ist es dunstig und heiss. Es riecht nach Öl und Moder. Die Dampfmaschine rattert im monotonen Rhythmus. Erst vor drei Tagen verliess das Schiff den Hafen von Kalkutta. Das Ziel – Europa – ist noch viele Wochen Seefahrt entfernt. Im fahlen Sternenlicht begegnen sich am Bug zwei Passagiere. Der eine geht spazieren, um seine Lungen mit frischer Meeresluft zu füllen. Der andere flüchtet in die Nacht, um niemandem zu begegnen.
Das ist die Ausgangslage von Stefan Zweigs Novelle «Der Amokläufer», die das Luzerner Theater als spannende Kombination aus Hörspiel, Lesung und Konzert am Freitagabend erstmals auf die Bühne des UG gebracht hat. Der Arzt kehrt nach langjährigem Dienst in den Tropen nach Europa heim. Tagelang wechselte er kein Wort mit irgendjemandem. Dieses Schweigen mache ihn krank, sagt er zu dem anderen Passagier, der eigentlich nur spazieren wollte. Ihm und der Nacht wird der Arzt seine dunklen Geheimnisse verraten.
In ihrer neusten Produktion begibt sich Regisseurin Katja Langenbach auf eine Reise in den Kosmos der Psyche. Ein besserer Begleiter für eine solche Reise als Stefan Zweig wäre kaum vorstellbar. Der österreichische Literat war ein Meister in der Darstellung der menschlichen Seele. Wie ein Maler zeichnet er sie mit all ihren Obsessionen, Anfällen der Leidenschaft, Gier, Begierde und Wut, aber auch in den hellen Momenten, wenn sich der Kopf wieder abkühlt.
Eindringlich illustriert das Ensemble des Luzerner Theaters die üppige Landschaft der menschlichen Gefühle mit all ihren Schwankungen. Das ist vor allem dem Schauspieler Thomas Douglas zu verdanken: Er scheint jede Facette des Seelenlebens zeigen zu können und sorgt dafür, dass sich die Leidenschaft auf das Publikum überträgt. Toll flankiert wird er von der Schauspielerin Tini Prüfert und dem Musiker Mario Marchisella, der die Emotionen zusätzlich mit seinen Klängen auflädt.
«Der Amokläufer» ist, wie eingangs erwähnt, kein gängiges Schauspiel. Langenbach entschied sich für eine Art Hörstück: eine Produktion im Grenzbereich verschiedener Genres. Der bühnentechnische Minimalismus ist dabei die richtige Wahl, denn er richtet das Augenmerk auf die Feinheiten der Sprache und die psychologischen Beobachtungen von Zweig. Eine Videoprojektion (Marianne Halter und Mario Marchisella) fördert zusätzlich die Vorstellungskraft des Publikums: Es tauchen Visionen der Tropen auf, die das Schiff hinter sich lässt. Diese Kulisse mag für eine geografische Exotik stehen oder für die ungezähmten Gefühle, die den Protagonisten ruiniert haben. Die Bilder können aber auch als ein Symbol für Fremdheit gelesen werden: für ein Leben im Exil. Eine derartige Isolation mag es sein, die den Nährboden für emotionale Ausbrüche darstellt und den Menschen an seine Grenzen treibt.
Die Bühne im UG erweist sich als ideal für diese Inszenierung. Räumlich beengt wie auf dem Ozeandampfer hören wir zu, was der leidende Arzt uns zu erzählen hat. Man geht mit auf Fahrt und ist beim Verlassen dieses Theaterschiffes berührt von der Intimität der emotionalen Begegnung und beeindruckt von der schauspielerischen Leistung des Ensembles. «Der Amokläufer» ist meisterhaft gelungen und man hat Lust, das Stück gleich ein zweites Mal anschauen zu gehen.
Weitere Vorstellungen bis 13. Februar, www.luzernertheater.ch