Die Mischung ist perfekt: Künstler mit enormer Ausstrahlung, Sängerinnen am obersten Limit, ein Chor und ein Orchester, welche die kochende Stimmung voll mittragen. Die «halbszenische» Aufführung von Gershwins «Porgy und Bess» begeistert.
Was für Charaktere! Was für ein Schauspiel! Am Schluss erhebt sich das Publikum im Konzertsaal des KKL bis in die obersten Ränge. Ein Applaus, der erst endet, als die Künstler von der Bühne gehen. «Porgy and Bess» von George Gershwin im praktisch ausverkauften KKL bringt an diesem Donnerstagabend alles mit. Energie, Leidenschaft und Spass. Aber auch Schmerz, Wut und Ausweglosigkeit.
Es ist der fulminante und irgendwie logische Schlusspunkt unter diese «Opernwoche» bei Lucerne Festival. Drei Mal stand der Gesang im Mittelpunkt. Nach den zwei «weissen» Bühnenwerken – Mozarts «La Clemenza di Tito» vom letzten Samstag und dem 1. Aufzug aus Wagners «Die Walküre» vom Dienstag – kommt «Porgy und Bess» dem Festivalmotto «Diversity» deutlich näher, zumindest bei den Solisten. Was bei Mozart auf hohem Niveau begann und bei Wagner mit herausragenden Stimmen weitergeführt wurde, findet bei George Gershwin seinen emotionellen und explosiven Abschluss.
1933 herrschte in den USA noch weitgehend die «Rassentrennung». Das Wahlrecht war so gebogen, dass viele Afroamerikaner nicht abstimmen durften. Im Bus konnten sie nur sitzen, wenn keine Weissen stehen mussten. Unterschiedliche Toiletten, getrennte Schulen, andere Friedhöfe ... Ausgerechnet in diesem Klima aus Verachtung und Hass machte sich George Gershwin daran, ein Werk zu komponieren, das in einem Schwarzenviertel in Charleston spielt. Für die Rollen sah er explizit und ausschliesslich Schwarze vor. Nur der Polizist – um den Effekt zu verstärken, erhält er einen Sprechtext – ist Weisser.
Nichts weniger als die erste grosse amerikanische Volksoper hatte Gershwin im Sinn. Für die Musik reiste er nach Cuba und Charleston. Aber auch nach Paris und vor allem zu Alban Berg, der gerade seinen «Wozzeck» komponiert hatte. Dabei reihte Gershwin die verschiedenen Stile nicht einfach aneinander, sondern verwob sie zu einem Ganzen, irgendwo zwischen «Die Meistersinger von Nürnberg und Madame Butterfly», wie er selber anmerkte.
Tatsache ist, dass es sich um Gershwins vielfältigstes Werk mit seiner komplexesten Harmonik handelt. Die vielen Swing- und Gospelelemente machten aus dem Stück endgültig ein Chamäleon. Auch bei den Einspielungen reicht das Spektrum von jazzigen Aufnahmen von Duke Ellington (1956) oder Ella Fitzgerald und Louis Armstrong (1959) bis zur sehr klassischen, eher steifen Einspielung unter Nikolaus Harnoncourt (2009).
Gelebte Musik
Am Donnerstag im KKL werden die besten dieser beiden Welten vereint. Das NDR Elbphilharmonie Orchester unter der belebenden Leitung von Alan Gilbert zeichnet plastisch die verschiedenen Szenen, hält die Spannung drei Stunden hoch. Reich und vielfältig zeichnen die Musikerinnen und Musiker die Zuspitzung beim Mord an Robbins oder geben «My Man’s Gone Now» Tiefe und Hintergrund. Das NDR Vokalensemble und seine Gastsolisten sorgen mit einzelnen Solos und Tanz für Gospelstimmung.
«Die Walküre» vom Montag mag im Gesamteindruck stimmlich höher anzusiedeln sein. Die Sängerinnen und Sänger von «Porgy und Bess» geben der konzertanten Aufführung jedoch ein wuchtiges Theatergesicht. Die «artiste étoile» Golda Schultz gibt in der Rolle der Clara eine weitere hervorragende Performance. Ihr «Summertime» ist ein luftiges Schweben. Die Sopranistin Elizabeth Llewellyn als Bess, reich auch in den tiefen Registern und mit brillanter Kraft in der Höhe, erzählt von Liebe, Überleben und Zerrissenheit. Morris Robinson (Porgy) bringt seine ganze Physis zu Geltung. Als ehemaliger Football-Player, der erst mit 30 zur Oper wechselte (!), ist er gar etwas dem Lauten verhaftet. Doch seine titanischer Bass und seine Präsenz machen aus dieser Rolle ein Ereignis.
Auch die anderen Künstlerinnen wie die gross auftrumpfende Latonia Moore (Serena) oder der sarkastische Gauner Sportin (Chauncey Packer) spielen und singen aus einem Guss. Überhaupt ist es dieses «Spiel», diese enorme Präsenz und Körperlichkeit der ganzen Besetzung, die am Anfang ein Feuer entzündet, das bis zum Schluss als galoppierende Fläche durchs KKL eilt.