KKL Luzern
Dirigentin Mirga Grazynite-Tyla: unter allen Umständen ein Star

Die litauische Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla gab dem Birmingham Symphony Orchestra zwei Gesichter mit Tschaikowsky und Bruckner.

Urs Mattenberger
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Mirga Grazynite-Tyla dirigiert das Birmingham Symphony Orchestra im KKL (am Flügel: Gabriela Montero).

Mirga Grazynite-Tyla dirigiert das Birmingham Symphony Orchestra im KKL (am Flügel: Gabriela Montero).

Nadia Schärli

Dass am Sonntag im Konzert des City of Birmingham Symphony Orchestra der Konzertsaal des KKL nur zu rund zwei Dritteln verkauft war, passte so gar nicht zur Starbesetzung auf der Bühne. Denn die litauische Dirigentin Mirga Grazinyte-Tyla wurde zum Shootingstar, seit sie – eben in Birmingham – als erste Frau Chefdirigentin eines Toporchesters wurde.

Aufsehen erregte später auch ihr Entscheid, aus familiären Gründen diesen Vertrag nicht zu verlängern. Seit die Tore für Dirigentinnen weit offen stünden, sagte sie damals dem «Guardian», müsste vermehrt zum Thema werden, müssten Frauen die Work-Life-Balance vermehrt zum Thema machen.

Ein Rollenvorbild auch für dirigierende Väter?

«Die Prioritäten haben sich in meinem Fall nach der Geburt der Kinder stärker verändert, als ich erwartet hatte», sagte sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Auch wenn sie das selber nicht so sehen wollte: Damit wird die Dirigentin, nachdem sie ein Vorbild für Frauen in Chefpositionen war, quasi ein Rollenvorbild für dirigierende Väter.

Denn ein Abschied vom Pult ist das natürlich nicht. Vielmehr soll die Entlastung durch die ­Abgabe des Chefpostens in Birmingham ihr zugleich mehr Zeit verschaffen für musikalische Projekte. Auch im Umgang mit ihrer Schwangerschaft und dem öffentlichen Reden darüber definiert Mirga Grazinyte-Tyla damit die Rolle von Stardirigenten zeitgemäss neu.

So war die Tatsache, dass man hier erstmals im KKL eine offensichtlich hochschwangere Frau dirigieren sah, keine Äusserlichkeit, sondern ein starkes Symbol dafür, wie Leben und Kunst in schöner Balance zusammenfinden können. Auch musikalisch zeigte das Konzert zwei Gesichter, von denen eines in die Vergangenheit und das andere in die Zukunft blickte.

Zurück in alte Heroenzeiten blickte die Aufführung des ersten Klavierkonzerts von Tschaikowsky, das hier die Erwartungen an ein Schlachtross unter den Klavierkonzerten zupackend-kraftvoll, aber etwas einseitig erfüllte. Es mochte auch daran liegen, dass die Akustik im nicht vollen Saal dem Klavier zu kraftvoller orchestraler Fülle verhalf. Die Pianistin Gabriela Montero beeindruckte vorab mit virtuoser Pranke und intensivierte die solistischen Passagen zum eindringlichen Erzählton, dazu blähte die Dirigentin den Orchesterklang süffig zum Cinemascope-Sound auf.

Ein Höhepunkt für sich war die Zugabe der für ihre Klassik-Improvisationen bekannten Pianistin. Ravels «Boléro» – ein Publikumswunsch – verdichtete sie zu einer Art Bach-Busoni-Kontrapunkt, bevor sie ihn in eine schmissige Habanera verwandelte und das staunende Publikum zu einem Begeisterungssturm hinriss.

Nach der Pause wie ­ausgewechselt

Nach der Pause erlebte man Orchester wie Dirigentin wie ausgewechselt in Bruckners sechster Sinfonie. Wirkte das Pathos bei Tschaikowsky massig-forciert, ergaben sich hier die strahlenden, über weite Bögen gespannten Steigerungen aus einem entspannten Musizieren heraus. Grazinyte-Tyla trieb und trug es voran mit blumenhaft schwebenden Gesten der linken Hand und energischen Attacken mit dem Stab in der rechten. Sie formten ein modern gelichtetes Brucknerbild mit tänzerischen Impulsen und kammermusikalischen Feinheiten im dynamischen Dämmerbereich, aus dem solistische Stimmen wie die myste­riöse Klarinette wie aus einer anderen Welt aufschimmerten.

So hätte dieser gross und weit atmende Bruckner, der die Saison der Migros-Kulturprozent-Classics-Reihe beschloss, einen vollen Saal verdient. Die Irritation über die leeren Plätze wischten zum Schluss die Standing Ovations hinweg, die wie ein demonstratives Bekenntnis auch für diese Frau auf dem Podium wirkten. Und manch einer mochte denken: Glücklich das Kind, das mit solcher Musik zur Welt kommt.