Um mehr über ihre Abstammung zu erfahren, sind Personen bereit, immer mehr brisante Informationen über sich preiszugeben. Das birgt erhebliche Risiken.
Die Frage nach der Herkunft ist so alt wie die Menschheit. Der Mensch will wissen, wo seine Wurzeln sind, von wem er abstammt, mit wem er verwandt ist. Das ist Teil seiner Identität. Im Internet gibt es heute viele Möglichkeiten, Ahnenforschung zu betreiben. Diverse Portale bieten Hobbyhistorikern Zugang zu Kirchenbüchern oder Ortsverzeichnissen, um nach Verwandten zu suchen und die eigene Familienhistorie zu rekonstruieren.
Um mehr über ihre Abstammung zu erfahren, sind Leute bereit, immer mehr Informationen über sich preiszugeben. Genealogie-Webseiten wie Ancestry.com bieten die Möglichkeit, über einen DNA-Test Verwandtschaftsgrade zu prüfen und einen Stammbaum zu erstellen. Das funktioniert so: Im Internet bestellt man ein «Ancestry-DNA-Testpaket». Darin enthalten sind eine Gebrauchsanleitung, ein Röhrchen für die Speichelprobe sowie eine Versandtasche für dessen Rücksendung. Im Labor wird dann die DNA analysiert. Nach sechs bis acht Wochen erhält man die Ergebnisse. Zum Beispiel: 33 Prozent Irland/Schottland/Wales, 28 Prozent Skandinavien, 13 Prozent Italien/Griechenland, 18 Prozent Südasien, 8 Prozent Benin/Togo.
«Ihre DNA erzählt eine Geschichte», wirbt Ancestry-DNA auf seiner Webseite. Das Portal hat das Genom von zehn Millionen Menschen analysiert, die einen DNA-Test machen liessen. «Wir können Sie daher mit mehr Menschen abgleichen, die dieselben DNA-Bausteine wie Sie haben», heisst es weiter. «Das könnten enge Verwandte sein. Das könnten auch entfernte Cousins sein. Doch Ihr Leben ist in gewisser Weise verbunden, bedeutend oder geringfügig. Ihre DNA führt Sie zusammen.»
Die Idee hinter den Genealogie-Plattformen ist auch ein Networkinggedanke. Statt wie auf Facebook mit Freunden vernetzt man sich mit Cousins fünften Grades oder Leihmüttern. Die «New York Times» fragte:
«Sind Gentestseiten die neuen sozialen Netzwerke?»
Über den genetischen und den Computercode knüpft man die biologischen Bande wieder zusammen. Es gibt im Netz verblüffende Erfahrungsberichte. Die afroamerikanische Marketingstrategin Christine Michel Carter fand über eine Erbgutanalyse heraus, dass sie zu 31,5 Prozent europäische Wurzeln hat und nur zu zwei Dritteln aus Sub-Sahara-Afrika. War sie keine «richtige» Afroamerikanerin, wie sie stets annahm? Das Ergebnis liess sie letztlich ihre Identität in Frage stellen. «Ich feierte den Black History Month und fand heraus, dass ich weiss bin», schrieb sie in der «Huffington Post».
Die Aussagekraft dieser grobgerasterten Testverfahren ist begrenzt, da im Prinzip alle Menschen über Tausende Ecken miteinander verwandt sind. Doch für diese Information zahlen Menschen unter Umständen einen hohen Preis: Sie legen ihr gesamtes Genom offen. Die DNA wird zum Quellcode. Die Frage ist, wie sicher diese Erbgutinformationen verwaltet sind und mit wem sie geteilt werden. Wer hat Zugriff auf den Datenpool? Versicherungen, die Menschen mit genetischen Dispositionen für Krankheiten höhere Prämien auferlegen oder sie ausschliessen könnten? Was passiert, wenn Cyberkriminelle die Datenbank hacken? Kann man die Daten wieder löschen?
Zwar betont Ancestry, dass der Schutz der Daten wichtig sei: «Wir bewahren Ihre DNA-Probe, Ihre DNA-Testergebnisse und andere, von Ihnen bereitgestellte personenbezogene Daten unter Anwendung der branchenüblichen Sicherheitsmassnahmen auf», schreibt das Unternehmen. Doch Zweifel sind angebracht.
Der grösste Konkurrent von Ancestry ist das Biotechnologieunternehmen 23andMe. Patrick Chung, Vorstandsmitglied von 23andMe, beschrieb das Ziel recht unverblümt: «Das langfristige Ziel hier es nicht, Geld mit dem Verkauf von (DNA-)Kits zu verdienen. Hat man erst einmal die Daten, wird das Unternehmen zum Google personalisierter Gesundheitsvorsorge.»
Eine beunruhigende Vision scheint dort auf, wo ein Konzern Nutzerdaten und Erbgutinformationen von Millionen Menschen in einem Datensilo vereint und daraus Verhaltensprofile generiert. «Person XY hat eine genetische Disposition für Magenkrebs und sucht im Netz häufig unter dem Begriff Sodbrennen.»
Ein solches Wissen über Menschen und in der Summe über die Menschheit gab es noch nie.
Genealogie kann Menschen auch zum Verhängnis werden. Der berüchtigte «Golden State Killer» Joseph James DeAngelo, der von 1976 bis 1986 zwölf Menschen ermordet und mindestens fünfzig Frauen vergewaltigt haben soll, wurde über ein Ahnenforschungsportal aufgespürt. Die Ermittler kamen ihm über die DNA eines fernen Verwandten auf die Schliche. Der Fall lehrt: Wer freiwillig eine Speichelprobe abgibt, muss damit rechnen, dass auch Ermittler die Erbgutinformationen nutzen.