New Mexico sei auch das «Land der Verzauberung», heisst es. Die Hauptstadt Santa Fe, mit über 400 Jahren die älteste der USA, ist geprägt durch die Geschichte und die Verbindung zu den Ureinwohnern des Landes. Sie zieht Künstler und Lebenskünstler aus aller Welt an.
Bernadette Conrad
«Schauen Sie, wie sich die Stadt in die Landschaft bettet...» Wir stehen auf mehr als 3500 Höhenmetern – um uns Gestrüpp, Zitterpappeln und weiter oben sogar noch letzte Schneeflecken. Mount Baldy ist der höchste Berg um Santa Fe. Und da die kleine Hauptstadt von New Mexico selbst schon auf 2100 Metern Höhe liegt, verliert man ein bisschen die Massstäbe.
Maria Johnson, 51, gross und blond und mit lebhaften Augen unter dunklen Augenbrauen, hat eine liebevolle Art, über die unten liegende Stadt zu sprechen. Die sandfarbenen Würfel der Adobe-Häuser, in die Wüstenlandschaft gestreut, haben tatsächlich eine Harmonie, als wäre der Ort nicht gebaut, sondern gewachsen. «Es gibt ja in Amerika wenige Städte, die so stark durch Geschichte und durch Verbindung zu den Ureinwohnern des Landes geprägt sind», ergänzt Maria.
Sie erinnert sich noch gut an den Moment vor 30 Jahren: Als sie, damals ein junges Model, die berühmte Fotografie von Edward Curtis, «The Vani-shing Race» von 1904, sah: der Blick von hinten auf eine Gruppe indianischer Ureinwohner, die langsam aus dem Bild reiten. «Dies Bild muss an einem Ort gemacht sein, der eine Seele hat» – so ihre Gedanken. Zwar hatte sie den Karrieresprung von England nach New York geschafft, wusste aber, dass sie auch noch etwas anderes suchte als die glitzernde Modelwelt. «Ich führte ein unruhiges Nomadinnenleben – und hatte mir selbst das Versprechen gegeben, nicht aufzugeben, bis ich einen Ort gefunden hätte, der ein seelisches Zuhause wäre.» Damals fuhr sie dem Foto nach – bis Santa Fe. Das wars. Ende der 80er kaufte sie ein Haus und pendelte noch sechs Jahre in ihrem Job, studierte aber gleichzeitig am Arts College Geisteswissenschaften und Psychologie. «New Mexico wird auch das Land of Enchantment genannt – das Land der Verzauberung», sagt Maria noch, während wir langsam vom Berg herunter und auf Santa Fe zufahren.
Älteste Hauptstadt der USA – 1610 war Santa Fe von den spanischen Kolonialherren zur Hauptstadt von «Neu-Spanien» erklärt worden – hat das 70 000-Einwohner-Städtchen längst auch ein Image als Stadt der Künstler und Lebenskünstler. An einer Seite der quadratischen Plaza zieht sich der mächtige Gouverneurspalast entlang, ein massives koloniales Gebäude – unter dessen lang gezogenem Vordach tagaus, tagein die indianischen Ureinwohner sitzen und auf Decken ihren Schmuck verkaufen. Überall die Architektur der Adobe-Häuser – flache Quader mit gerundeten Ecken – die in den indianischen Pueblos entstanden ist. Deren verschiedene Stämme leben über New Mexico verteilt in insgesamt 19 Reservaten.
Hier auf der Plaza endete auch der berühmte «Santa Fe Trail», die 1821 begründete Handelsstrasse zwischen Missouri und New Mexico. Die ganze aufregende Geschichte ist atmosphärisch noch zu spüren – in manch einem altmodischen Hotel oder auch in den Schmuckgeschäften und ihren farbenfrohen Auslagen, die «echten» indianischen Schmuck versprechen.
Was aber bedeutet überhaupt «echt»? Maria steuert geradewegs auf einen Laden namens «Keshi» zu, der wie ein gemauerter Schuppen abseits der Plaza liegt: «Man kann das nur erkennen, wenn man die Geschichte des Ladens und der Leute kennt», sagt sie und macht mich mit der weisshaarigen Robin Dunlap bekannt, die «Keshi» – das Wort der Zuni-Indianer für Willkommen – vor vielen Jahren gründete. Damals war Robin als Lehrerin, alleinerziehend mit ihrer kleinen Tochter, in ein Reservat der Zuni gegangen, um dort zu unterrichten. «Bei den Zuni haben sich meine Werte verändert», sagt sie, «wie meine Tochter und ich dort aufgenommen und ein Teil der Gemeinschaft wurden, prägt uns beide bis heute.»
Robin gründete eine Kooperative, um der künstlerischen Produktion der Zuni einen Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen. Heute betreiben die beiden Frauen den Laden, für den sie den Zuni ihre Kunst zu fairen Preisen abkaufen. Es sind Leute wie Robin, die Maria irgendwann dazu brachten, ihren Blog «santafeselection.com» einzurichten: jenen Betrieben und Initiativen gewidmet, die sich einem idealistischen Geist, vor allem aber der Solidarität mit den Ursprüngen von Santa Fe und seinen Ureinwohnern verpflichtet sehen.
Die Vitrinen sind voll mit jener filigranen «Petit-Point»-Kunst, die typisch ist für die Zuni: Wie fein bearbeitete Splitter sind die Türkise und Rubine in Silber gefasst. Im Zentrum der Zuni-Kunst aber stehen die Fetische: Bären, Dachse, Libellen, Wölfe, Adler; Tierfiguren, aus Stein oder Halbedelsteinen geschnitzt, die kleinsten zwei Zentimeter klein, die grössten meterhoch. «Fetische stellen ihren ‹Spirit› und ihre speziellen Kräfte den Menschen zur Verfügung, die sie nähren», erklärt Robin. Zu jedem Fetisch, den man bei «Keshi» kauft, gibt es einen kleinen Beutel Maismehl.
Jetzt aber Kaffee. In «C. G. Higgins Artisan Chocolate & Chuck’s Nuts Original» ein paar Strassen weiter duftet es nach Kaffee und Schokolade. Wir sinken in die Kaffeehaus Stühlchen und lassen Chuck – weisse Haare, stahlblaue Augen – von jener karriereentscheidenden Initialzündung erzählen, die er als Zwölfjähriger erlebte. Es war ein kleiner Familienbetrieb, in dem er zum ersten Mal hausgemachte «Nut Rolls» ass – und sie erweckten seinen Ehrgeiz, so etwas Herrliches auch selbst einmal zu produzieren.
Chuck, der aus dem Mittleren Westen stammt, versuchte an verschiedenen Orten sein Glück, aber glücklich wurde er erst in Santa Fe. «Hier sind die Menschen irgendwie besonders – vielleicht leben wir deshalb in guter Verbundenheit miteinander, weil niemand es selbstverständlich findet, in Santa Fe sein zu können.» Man könnte viel Zeit damit verbringen, Chucks «Specials» zu probieren: Caramel-Popcorn oder Chili Pecan Brittle, Himbeertrüffel oder hausgemachte Eiscreme.
Die Wege in Santa Fe sind kurz – fast alles kann, ganz unamerikanisch, zu Fuss gemacht werden: Auch die Existenz von Marias Landsmann Colin Keegan begann mit einem Zufall und wird heute mit dem Elan eines erfüllten Traums geführt: Es fing an mit einem Grundstück, auf dem viel zu viele Apfelbäume wuchsen, als dass man mit den Früchten hätte fertigwerden können. «Apfelbrandy», strahlt Keegan. Calvados. Aber auch Whisky im schottischen Stil. Seine «high spirits» sind inzwischen mit höchsten Ehren versehen, haben Gold- und Silbermedaillen abgeräumt. Wie Maria könnte auch er sich nicht mehr vorstellen, nach Europa zurückzugehen. Es gäbe eine Weite nicht nur in der Landschaft, sondern auch in den Menschen, sagt Colin Keegan. Vielleicht hängt das ja sogar zusammen.
Maria will mir zum Tagesabschluss noch die Canyon Road zeigen – jene berühmte Kunststrasse, der entlang sich Galerien und Skulpturengärten aneinanderreihen. Auf dem Weg dahin trifft sie einen befreundeten indianischen Künstler, der gerade von einem Markt kommt.
Er erzählt mir, dass manche Künstler sich so wie er auf ein einziges Motiv konzentrieren: sein «Krafttier», erzählt er, sei die Eule – und behutsam wickelt er ein schwarzglänzendes Figürchen aus, um es mir zu zeigen. Während wir an der Canyon Road an lebensgrossen Cowboys, Bronzefiguren von Indianerhäuptlingen, Schmuck, Keramik vorbeiwandern, sagt Maria nicht ohne Stolz: «Künstler aus der Gegend wollen hier bleiben – und von woanders in der Welt wollen sie kommen.» Irgendwo hier lebt seit kurzem auch die Schweizer Schriftstellerin Milena Moser. Der Ruf von Santa Fe hat es sogar bis hinter den Zürichsee geschafft.
Hinweis
Auf ihrem Blog santafeselection.com stellt Maria Johnson seit Jahren die Stadt und ihre Leute vor.