Ein schweizweites Projekt führt Menschen an ausgewählte Orte der Ruhe. Das trifft den Nerv vieler Stressgeplagter.
Rund um die Predigerkirche am Zähringerplatz in Zürich herrscht stets Betrieb. Wer runterfahren möchte und Stille sucht, wird im Inneren der reformierten Altstadtkirche fündig. Um 12 Uhr bereitet Pfarrerin Renate von Ballmoos das Mittagsgebet vor, das hier täglich stattfindet. Bei diesem Gebet wird auch geschwiegen. Eine himmlische Ruhe füllt jetzt den riesigen Kirchenraum. Das wird von vielen geschätzt, denn Stille wird in dieser rasenden Zeit immer kostbarer.
Stille ist ein tiefes Bedürfnis vieler Gegenwartsmenschen. Anlässe wie das Festival der Stille in Kaiserstuhl AG widmen sich diesem Thema, auch auf dem Buchmarkt boomt es. Das haben die Macher des Portals der «Schweiz in Stille» erkannt und aufgelistet, wo die Stille eine Hauptrolle spielt. Meditationen nach der Lehre des Haus Tao finden beispielsweise in den Kantonen Aargau und Solothurn statt. Aufgeführt sind weiter die City-Kirche Zug, das Lassalle-Haus in Edlibach ZG. Auch in der Leonhardkirche in St.Gallen, im Romerohaus Luzern oder in der Lukaskirche ebenda wird meditiert. In Zürich gibt es gar eine Praxis der Achtsamkeit. Die gelisteten Orte der Stille reichen vom Aki, dem katholischen Akademikerhaus in Zürich, bis zum Zentrum für Buddhismus in Bern.
«Schweiz in Stille» hat eine längere Entstehungsgeschichte: Im Mai 2000 initiierte Ivana Quarenghi das Projekt «Basel in der gemeinsamen Stille». In der Tituskirche in Basel fanden bald monatliche Meditationen statt. Das Forum für Zeitfragen der reformierten Kirche Basel Stadt unterstützte das Projekt. 2014 übergab Ivana Quarenghi das Projekt an den Verein Integrale Politik Nordwestschweiz, der zusammen mit anderen Organisationen am ersten Montag des Monats auf dem Marktplatz in Basel den Cercle de Silence durchführt. Mit Unterstützung der Stiftung für integrale Friedensförderung und dem Einsatz von Freiwilligen wurde daraus das gesamtschweizerische Projekt «Schweiz in Stille». Laut Cécile Cassini, Koordinatorin von «Schweiz in Stille», richtet sich das Portal an Menschen, die der Alltagshektik entfliehen, die Stille suchen und sich in Meditation, Kontemplation und Achtsamkeit üben wollen. Oder dies lernen möchten. Das sei gar nicht so einfach, weiss Cécile Cassini aus eigener Erfahrung. Die Aargauerin kennt den Satz des Schweizer Jesuiten und Zen-Meisters Niklaus Brantschen, der einmal sagte: «Stille ist nichts für Feiglinge.» In der reizüberfluteten Gesellschaft sei Stille für manche eine echte Herausforderung. Die pochende innere Stimme müsse man aushalten können. Deshalb gebe es für die Stille-Suchenden auf dieser Website viele Angebote in Bildungshäusern, Pfarreien und Klöstern, die in die Kunst der Meditation und andere Entspannungsübungen einführen. Dank Aufteilung nach Regionen und eines alphabetischen Verzeichnisses sei es einfach, sich die für sich selbst passendste Form der Stille-Praxis auszusuchen oder an unterschiedlichen Orten jeweils neue Formen kennen zu lernen.
Der Betreuer der Seite, Ronny Buth, hat extra Videos aufgezeichnet. Diese zeigen unter dem Motto «Facetten der Stille – Finde deinen Ort» verschiedene Menschen, die berichten, an welchen Orten sie Stille gefunden haben und was an ihr so besonders ist. Zum Beispiel sagt Evelyn aus Basel: «Ich bin ein Lover of Silence. Ich liebe die Stille. Ich finde dort höchste Lebendigkeit.» Katjana meint: «In der Meditation habe ich die Möglichkeit, nach innen zu sehen und eine schöne Zeit mit mir zu haben.»
In der Krypta der Basler Leonhardkirche kommen Stille-Suchende seit zwölf Jahren zusammen. Martin, ein älterer Stille-Suchender, sagt: «Viele Junge suchen etwas Ekstatisches, Transzendierendes. Wir finden das hier in unserer Meditation.» Für Christoph, der in Basel Zen-Meditation praktiziert, geht es bei seiner Meditationspraxis nicht nur um die Atmung, sondern auch um die Geisteshaltung. Wer ein solches Portal lanciert, muss selber den Wert der Stille kennen und schätzen. Stille führt für Cécile Cassini in die Ruhe und bildet für sie so die Basis für ein tieferes Verständnis, für sich selber und für andere. In der Stille, sagt sie, lernen wir, «mit dem Herzen zuzuhören, zu denken und zu kommunizieren – die Verbundenheit von allem mit allem wird erfahrbar». Der fruchtbare Umgang mit Stille geht für die 68-Jährige weit über das Private hinaus: Jeder Mensch, der die innere Ruhe und den inneren Frieden pflege, leiste damit auch einen wichtigen Beitrag zum Frieden – in der Familie, im Freundeskreis, in Politik und Wirtschaft, in der Welt. Gemeinsame Stille, so Cécile Cassini weiter, verbindet Menschen über die Sprachgrenzen hinaus und führt zu gegenseitiger Akzeptanz.
«Schweiz in Stille» ist ein gemeinnütziges Projekt und lebt von Spenden. Die Macher dieses Portals fassen mehrere Ziele ins Auge: Besucherinnen und Besucher sollen sich vertieft auf das Thema Stille einlassen und sich dazu Gedanken machen, welchen Platz sie in ihrem Leben verdient. Die Plattform soll zudem Suchende zu einer für sie persönlich passenden Stille- oder Meditationsgruppe hinführen. Das Internetportal, das regelmässig mit neuen Angeboten erweitert wird, soll schliesslich zu einer «Landkarte der Stille» werden.