Interview
«Wer nicht gelebt hat, dem fällt das Sterben doppelt schwer»: Jesuit und Zen-Meister Brantschen im Gespräch über sein neues Buch

Können Atheisten beten? Beten die Menschen mehr seit Corona? Ein Gespräch mit Jesuit und Zen-Meister Niklaus Brantschen. Der auch sagt, er übe jeden Tag, dem Tod in die Augen zu sehen.

Pia Seiler
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zvg

Niklaus Brantschen, 83 Jahre alt, Jesuit und Zen-Meister, lädt bei Bergkäse, Brot und Wein zum Gespräch ins Lassalle-Haus, wo er seit 1973 lebt und wirkt. Mit Bedacht tischt er das einfache Nachtessen auf. Die Sorgfalt der Handgriffe in Stille lassen den Meister der buddhistischen Zen-Meditation erkennen, wo es kein Wort gibt und Gesten eine zentrale Rolle spielen. Wir wollen über sein neues Buch reden. «Gottlos beten» heisst es. Aber es geht um sehr viel mehr.

Herr Brantschen, beten die Menschen mehr seit Corona?

Brantschen: Man sagt: Not lehrt beten. Doch Not lehrt vieles und sie macht erfinderisch. Ich weiss nicht, ob die Menschen mehr beten. Was ich aber feststelle: Viele sind in sich gegangen, sind nachdenklicher unterwegs.

Ihr neues Buch heisst «Gottlos beten», ein paradoxer Gedanke. Wo doch beten im Grunde Sprechen mit Gott ist. Geht gottloses Beten überhaupt?

Ja. In einer Radikalität, wie ich sie in Japan bei Menschen erlebt habe, die Zen praktizierten – eine Meditation ohne Worte. Diese Menschen sind Buddhisten, von denen viele sagen, sie hätten keinen Gott. Ich fasse den Begriff deshalb weiter: «Beten» als eine radikale Bewegung des Herzens auf ein Geheimnis hin.

Was für ein Geheimnis?

Das, was uns umfängt und durchdringt, indem wir leben und uns bewegen. Das, was grösser ist als wir. Das, was unsagbar ist.

Sie sind Jesuit und Zen-Meister – sozusagen ein Profibeter mit jahrzehntelanger Übung in westlicher und östlicher Tradition. Welche Erfahrung ist tiefer?

Ich möchte nicht werten. Schweigen ist gut. Im Zen, wo Gesten helfen, meinen Dank zum Ausdruck zu bringen. Auch Schreien ist gut. Mit den Psalmen, die meiner Not Ausdruck geben – wenn ich dabei nur nicht eine fixfertige Lösung erbettle.

Haben Sie noch nie um etwas Konkretes gebetet wie vielleicht als Kind?

Eigenartigerweise bete ich noch, wie ich das als Kind tat. Mit Stossgebeten, die ich von der Mutter gelernt habe. Aber um etwas Konkretes gebeten und gebettelt, nein. Mir genügt: Dein Wille geschehe.

Wer hat Sie beten gelehrt?

Der Vater. Ich habe als kleiner Bub gesehen, wie er in der Kirche die Finger verschränkte und die Lippen bewegte. Ich sass neben ihm und machte es ihm nach. Beten lernt man durch Beten. Tiefes Beten lernt man durch tiefes Beten. Und schweigen lernt man durch Schweigen.

Der Meigetsuin-Tempel in Kamakura.

Der Meigetsuin-Tempel in Kamakura.

Koji Sasahara/AP

Beseelte Orte helfen, in die Tiefe zu gelangen, schreiben Sie und nennen die Stadt Kamakura in Japan. Welche Orte helfen Ihnen hierzulande?

Einsiedeln ist ein solcher Ort. Die Schwarze Madonna ist wie ein Fels, der aufgeladen ist und Energie abstrahlt. Bei ihr fühle ich mich mit den unzähligen Menschen verbunden, die dort Kraft schöpfen, darunter auch Hindus und Buddhisten.

Pilgern Sie regelmässig nach Einsiedeln, wenn möglich noch zu Fuss?

Ja, letzte Woche wieder.

Die ganze Strecke? Das sind von Ihrem Daheim ob Zug gut und gerne sechs Stunden. Wie schaffen Sie das mit 83 Jahren?

Schritt um Schritt, Atemzug um Atemzug. Auch das ist für mich Gebet. Letzte Woche war ich gerade mal fünf Minuten bei der Madonna. Ich habe mich vor ihr verneigt und ihr gesagt: Hier bin ich. Auf Wiedersehen. Und dann ging ich essen, ich hatte Hunger.

Das Kloster Einsiedeln.

Das Kloster Einsiedeln.

Boris Bürgisser

Sie schreiben in Ihrem Buch auch über die Bereitschaft, dem Tod ins Auge zu sehen. Können Sie das?

Ich übe. Und lerne, indem ich leben lerne, tagtäglich, mit den Möglichkeiten, die mir gegeben sind. Nicht halbherzig, nicht mit angezogener Handbremse, sondern ganz. Ich denke, das ist die beste Vorbereitung auf den Tod. Wer nicht gelebt hat, dem fällt das Sterben doppelt schwer.

Sie schreiben: «Ich erlaube mir ausnahmsweise, Ratschläge zum guten Altwerden und Sterben zu erteilen ...»

... ich gebe diese Ratschläge in erster Linie mir selber.

Was sind Ihnen die wichtigsten Ratschläge?

In Bewegung bleiben, physisch und psychisch. Die russische Sportärztin Gallina Schatalowa pflegte zu sagen: Lauf los. Wenn du nicht laufen kannst, dann geh, und wenn du keine Kraft hast zum Gehen, dann krieche. Aber bewege dich. Weiter will ich mir Zeit nehmen für Freundschaften. Dann den Humor nicht verlieren. Und schliesslich dankbar sein. Ich frage mich jeden Tag: Wofür kann ich danken? Solange ich danken kann, bin ich nicht unglücklich.

Wofür haben Sie heute gedankt?

Ich hatte in Kreuzlingen zu tun, und statt retour erneut den Zug zu nehmen, bin ich aufs Schiff. Ich habe in Stein am Rhein Pause gemacht, in Schaffhausen wieder einmal den Rheinfall bewundert und bin erst dort in den Zug gestiegen. Für diesen Tag auf und am Rhein bin ich dankbar.

Doch es muss nicht eine Rheinfahrt sein. Ist das Herz offen, findet man alltägliche Sachen, kleine und grosse, für die man danken kann. Wenn ich immer etwas Besonderes suche, um danken zu können, wird es anstrengend. Das Leben selbst ist reich genug.

Sie schreiben vom guten Sterben und zitieren die zentrale Erfahrung der Menschen im Mittelalter, die auch für Sie gilt: «Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben.» Muss denn dieser Tod immer um uns sein?

Ich stelle einfach fest: Wenn ich mich der Begrenztheit, dem nahenden Ende stelle, wird die verbleibende Zeit kostbarer. Ich habe im letzten Jahr verschiedentlich gedacht: Das wird das letzte Mal sein. Man kann traurig sein darüber, dass es vorbei ist. Oder man kann sagen: Was vorbei ist, ist vorbei – heute lebe ich noch.

Können Sie ein Beispiel geben für ein letztes Mal?

Ich ging klettern mit einer guten Kollegin, eine anderthalbstündige Partie am Schwyzer Haggenspitz. Es ging gut, auch beim Durchstieg durch den Müllerkamin. Aber die Eleganz fehlte. Klettern ist wie Tanzen am Fels, man verlagert das Gewicht, balanciert hin und her, schwingt sich hoch. Wenn das nicht mehr möglich ist, macht Klettern keine Freude mehr. Und so lasse ich es.

Im letzten Kapitel geht es um die Liebe. Was können Sie uns darüber sagen?

Liebe braucht viel Geduld, einen langen Atem, man muss stille werden, auf den anderen Menschen achten, ihm das Ohr leihen, mit ihm ins Gespräch treten und im Gespräch bleiben.

Ist Ihnen diese Kunst gelungen?

Es ist mir egal, ob es mir gelungen ist. Oder warum es mir nicht gelungen ist – dafür gibt es hundert Gründe, und zu jedem Versäumnis würde ich mir Vorwürfe machen. Die Frage ist: Gelingt es mir heute? Solange ich atme, ist die Möglichkeit gegeben, Zuwendung, Wohlwollen, Liebe einzuüben und ausströmen zu lassen.

Niklaus Brantschen: «Gottlos beten. Eine spirituelle Wegsuche», 128 S., Herbst 2021, Verlag Patmos