Kolumne
«Glamour, mon amour»: Wild und frei

Unsere Kolumnistin Simone Meier schreibt diese Woche über das Leben in einer kleinen spanischen Stadt, das einer wahrgewordenen Utopie gleicht.

Simone Meier
Simone Meier
Drucken
Bestimmte Papageiarten sind Pioniere einer zukunftsgerichteten Schwangerschaftswohnform.

Bestimmte Papageiarten sind Pioniere einer zukunftsgerichteten Schwangerschaftswohnform.

Luis Argerich/Wikimedia

Kennen Sie Spaniens wilde Mönchssittiche? Es sind mittelgrosse grüne Papageien mit einer weissen Brust und einer blaugrünen Flügelinnen­seite, sie sind höllisch dekorativ und herzig, abartig laut, schon fünf von ihnen klingen nach einer kreischenden Schulklasse, und sie lassen sich im Gegensatz zu ungefähr jedem anderen Lebewesen höchst ungern fotografieren.

Ihr Sozialverhalten fasziniert mich gerade sehr, sie bauen nämlich grosse Cluster-Nester, in denen mehrere Pärchen nebeneinander kleinere Nest­waben bewohnen und gemeinsam brüten, sie sind darin quasi Pioniere einer zukunftsgerichteten Schwangerschaftswohnform. Dass es wie Tauben Tausende davon gibt und man sie in den Städten für ausgesprochen lästig hält, ist nicht ihre Schuld, sondern die spanischer Ziervogel­besitzer, die sie einst aus Südamerika importierten. Die Vögel suchten, was wir alle suchen, nämlich die Freiheit. Wo sie sich sofort vermehrten. Und da sind sie nun. Wild seit 1975.

Mir sind sie zum ersten Mal in Sitges begegnet, einem Städtchen südwestlich von Barcelona. Eine ungemein grosszügige Person hat uns in der Nebensaison ihr Ferienhäuschen angeboten, und plötzlich merkten wir, dass viele unserer Freundinnen und Freunde schon vor uns in Sitges gewesen waren. Münder schwärmten bei der Erwähnung von Sitges, Augen verdrehten sich himmelwärts, Hände legten sich wechselweise aufs Herz oder den Bauch, und unsere Er­wartungen stiegen und stiegen. Sie ­wurden allesamt übertroffen. Jetzt, fast noch im tiefen Winter (auf den Hügeln hinter der Stadt liegt frischer Schnee), ist Sitges der Himmel, die Strände sind leer, die feinen Beizen trotzdem alle offen und immer voll, die Einheimischen, die immerzu gutes Essen feiern, stehen Schlange vor Bäckereien und Metzgereien, und über allen liegt eine Aura von Freundlichkeit, die mehr ist als der unvermeidliche Charme der Meerlage.

Der Maler und Dichter Santiago Rusiñol hat Sitges um 1900 berühmt gemacht, er hatte Frau, Kind und Barcelona für einen Liebhaber verlassen und sich in Paris fast mit Absinthe und Morphium umgebracht. Danach zog er ins beruhigende Sitges und mit ihm die halbe Bohème, darunter der russische Tänzer Vaslav Nijinsky und der spanische Dramatiker und Lyriker Federico García Lorca. Unter der Franco-Diktatur wurde Sitges zum wehrhaften Hort der Gegenkultur und heute ist es der schwulste Ort Europas mit dem grössten Karneval ausserhalb von Rio. Am Karneval verkleiden sich Kinder und Erwachsene jederlei Geschlechts genau gleich glitzrig, alle kreischen und flattern mit den grünen Vögeln um die Wette, es ist eine alle umarmende Ausgelassenheit.

Genau so ist hier auch der Alltag, minus Glitzer natürlich, und das Gekreisch wird den Vögeln überlassen und den Schulklassen, die hingebungsvoll die Bäume ums Schulhaus in Regenbogenfarben bemalen. Es ist keine Utopie. Es ist das Leben in einer kleinen spanischen Stadt.