Fremdenfeindlichkeit als Alltagserfahrung. Was sich aktuell wieder Bahn bricht, ist kein neues, ostdeutsches Phänomen. «Ausländer raus»-Rufe in Deutschland sind nie komplett verstummt.
Da sitze ich hier in der gemütlichen Ostschweiz, und Chemnitz ist weit weg. Fremdenhass ist weit weg. Für eine Deutsche mit mitteleuropäischem Aussehen ist Fremdenhass immer weit weg. Betroffen war ich selber nie. Ich nicht, aber meine jüngeren Adoptivgeschwister, geboren in Südkorea. Ihnen wurde oft, zu oft, «Schlitzauge» hinterhergerufen. Schon als sie noch Kinder waren. Nicht in unserer schwäbischen Heimat, da waren mein Bruder und meine Schwester früher keinem Altnazi einen Blick wert. Zum ersten Mal hörten wir solche Rufe in der DDR. Auf Verwandtenbesuch in Halle an der Saale, in Naumburg beim berühmten Dom, in Eisenach auf dem Weg zur Wartburg. Schlitzauge, Schlitzauge, Chinese, Chinese! Wir Kinder fielen aus allen Wolken. Was hatten die anderen Kinder denn gegen meinen Bruder und meine Schwester? Die Eltern und ostdeutsche Freunde versuchten zu erklären: Es gebe hier nicht viele Ausländer, die DDR-Kinder seien den Anblick von Fremden nicht gewohnt. Die DDR hatte bis zu 94000 Vertragsarbeiter ins Land geholt, aus Mosambik, Vietnam oder Kuba. 1989 lebten zirka 190000 Ausländer in der DDR. Doch die Parolen vom proletarischen Internationalismus waren nicht viel mehr als Parteipropaganda. Die Vertragsarbeiter sollten kommen, arbeiten und dann wieder gehen. Integration war nicht vorgesehen, Konflikte wurden nicht thematisiert. Hochzeiten zwischen Deutschen und ausländischen Vertragsarbeitern wurden durch bürokratische Auflagen verunmöglicht. Zu DDR-Zeiten blieben Ausländer Fremde.
Viele Jahre später in Rostock, die Wende war schon länger her. Unser Studentenleben an der Hochschule für Musik und Theater spielte sich in einer Blase abseits des Rostocker Alltags ab. Bis einige ausländische Studenten erzählten, dass sie sich am Bahnhof versteckten, erst kurz vor Abfahrt der S-Bahn auf den Bahnsteig rannten, direkt in die Bahn stürmten, dass sich gerade hinter ihnen die Türen schlossen. Aus Angst vor Glatzen. Nazis waren gut erkennbar, Springerstiefel, Bomberjacke, rasierter Schädel. Erst da wurde uns bewusst, dass viele Nazis in Rostock auf den Strassen waren. In der Kröpeliner-Tor-Vorstadt, in der damals schüchtern erste Szeneviertel-Versuche wuchsen, gab es einen Nazi-Kleiderladen. Der Taxifahrer, der pöbelte, einen Döner würde nicht mal sein Hund fressen. An Heimspielen des FC Hansa Rostock waren Bahnhof und Strassen zum Stadion schwarz vor Polizisten in Komplettschutzmontur. Ob Hooligans oder Nazis zum Stadion marodierten, war oft nicht auszumachen. Unsere Professoren und Dozenten erklärten, die Nachwendezeit habe viele Menschen verunsichert, sie hätten Existenzängste, fühlten sich ihrer Berufe, ihrer Sicherheiten beraubt, sähen Menschen anderer Herkunft als Bedrohung. Die Hetzjagd auf 120 Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen von 1992 lag schon ein paar Jahre zurück. Die Einstellung einiger Rostocker hatte sich wohl nicht geändert. Auch in Westdeutschland kam es zu rassistischen Anschlägen und Angriffen. In Mölln starben im November 1992 bei einem rechtsextremistischen Brandanschlag zwei Mädchen und ihre Grossmutter. Im Mai 1993 starben bei einem Brandanschlag mit rechtsextremistischem Hintergrund in Solingen fünf Menschen. Noch länger nach der Wende, im thüringischen Meiningen, einer Kleinstadt im Thüringer Wald mit 22000 Einwohnern, grossem Staatstheater und toter Fussgängerzone. Es gab zwei Kneipen, in die man gehen konnte. Andere waren bekannte Treffpunkte der Nazis. Denen wollte man lieber nicht begegnen. Eine Freundin erzählte, sie hätte als Meininger Nachwende-Schülerin drei Optionen für die Freizeitgestaltung gehabt: Sportverein, Theaterjugendclub oder Nazis.
Meine Geschwister wurden dann auch in der betulichen schwäbischen Heimat rassistisch beschimpft. 1992 war die rechte Partei «Republikaner» mit über zehn Prozent der Stimmen in den Landtag Baden-Württemberg eingezogen – in einem der reichsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Länder Deutschlands. Doch auch das kein neues Phänomen: Die rechtsextreme NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) wurde bereits in den 60er-Jahren in sieben der damals elf Landesparlamente gewählt. In den 1970ern verschwand sie zwar von der Bildfläche, doch nach der Wende zog sie im Osten Wähler an. Was das jetzt mit Chemnitz zu tun hat? Viel. Nie hat es keinen Rassismus gegeben in Deutschland. Auch in der DDR nicht. Neu ist, dass jetzt nicht nur Glatzen mit Springerstiefeln marschieren, sondern Bürger der vermeintlichen Mitte mitlaufen und es mindestens tolerieren, wenn Nazis den Hitlergruss zeigen oder – wie am Sonntag in Köthen – skandieren «Nationalsozialismus jetzt! Jetzt! Jetzt!». In Chemnitz zeigt sich die Fratze des Rassismus. Aber verschwunden war sie in Deutschland nie. 2017 zählten die Amadeu-Antonio-Stiftung und Pro Asyl vier Angriffe auf Geflüchtete oder ihre Unterkünfte – pro Tag. Gemäss einer aktuellen Umfrage liegt die AfD beim Deutschlandtrend in den ostdeutschen Bundesländern vor der CDU. Nach der Erhebung von Infratest Dimap kommt die AfD bei der Sonntagsfrage («Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?») auf 27 Prozent in der Region. In Westdeutschland würde sie 14 Prozent bekommen. In Sachsen wurde die AfD bereits bei der letzten Bundestagswahl stärkste Kraft. Pegida, «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes», wurde in Sachsen gegründet. Die fremdenfeindliche, rassistische, rechtspopulistische Organisation wurde im Oktober 2014 in Dresden als Verein eingetragen und veranstaltet regelmässig Demonstrationen. Die rechte Szene hat sich vernetzt und professionalisiert – das zeigte der Aufmarsch von 6000 rechten Demonstranten kurz nach der Tat in Chemnitz. Und der Aufmarsch von 2500 rechten Demonstranten am Sonntag in Köthen, kurz nachdem bekannt wurde, dass ein Deutscher nach einer Auseinandersetzung mit drei Asylbewerbern zu Tode kam.
Eine Studie der University of Warwick untersuchte den Zusammenhang zwischen Hasskommentaren auf der Facebook-Seite der AfD und Übergriffen auf Flüchtlinge. Ihr Resultat: Es gibt eine starke Verbindung. Übergriffe auf Flüchtlinge finden gehäuft in den Wochen statt, in denen auch mehr Hasskommentare über Flüchtlinge auf der AfD-Facebook-Seite gepostet werden. Meine Geschwister haben sich mit dem Alltagsrassismus arrangiert. Offen beschimpft werden sie selten. Aber schiefe Blicke, Kommentare, beiläufige Bemerkungen, die verletzen, damit müssen sie immer wieder zurechtkommen. Es hilft nur, sich ein dickes Fell zulegen und mit träfen Sprüchen zu kontern. Vielleicht konnte die rechte Szene erstarken, weil immer alle wegschauten. Deutschland rassistisch, antisemitisch? Wir doch nicht, nie wieder, nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs. Doch die Realität sieht anders aus. Immerhin zeigte sich die schweigende Mehrheit in Chemnitz beim Konzert gegen rechts. Und diese schweigende Mehrheit wacht nun hoffentlich auf.