Ratgeber
Soll ich blinden Menschen Hilfe anbieten?

Auf meinem Arbeitsweg begegne ich ab und zu einer sehbehinderten Frau. Ich würde ihr gerne anbieten, sich bei mir einzuhängen, so dass sie gut durch den morgendlichen Verkehr kommt. Aber ich getraue mich nicht. Mir hat einmal jemand gesagt, dass Behinderte ganz allgemein keine Hilfe möchten. Stimmt diese Aussage?

Doris Pfyl*
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Ihre Frage hat bei mir einiges in Gang gesetzt. Mein erster Gedanke als Knigge-Trainerin war, dass der menschenfreundliche Umgang in dieser Situation doch selbstverständlich gelebt werden muss und somit unbedingt ein Hilfsangebot kommen sollte.

Doris Pfyl.

Doris Pfyl.

Plötzlich drängte sich mir aber die Frage auf, wie ich als Sehbehinderte mit solchen Angeboten umgehen würde. Wäre es mir angenehm, am Arm eines mir bis anhin fremden Menschen über die Strasse geführt zu werden? Würde ich trotz meiner Einschränkung nicht möglichst selbstständig unterwegs sein wollen? Als nicht Betroffene konnte ich das unmöglich restlos beantworten. Also fragte ich bei Sehbehinderten nach.

Mit der spontanen Reaktion zur Menschenfreundlichkeit liegt man durchaus richtig. Die meisten Personen mit einer Sehbehinderung schätzen Hilfsangebote. Diese sollten aber dezent und vor allem auch respektvoll erfolgen. Man hält die Distanzzone ein, fasst niemanden ungefragt an und spricht eine Person erst dann an, wenn man sich seitlich neben oder bereits vor ihr befindet.

Sprechen Sie erst einmal einen Gruss aus. Das ist höflich, und Sie werden akustisch «sichtbar». Mit der Frage: «Sehen Sie genug oder darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?» finden Sie heraus, ob Ihre Unterstützung gewünscht ist. Wird Ihr Hilfsangebot angenommen, bieten Sie an, sich bei Ihnen einzuhängen, und führen Sie die Richtung an. Gehen Sie einen halben Schritt voraus und kommunizieren Sie, was Sie sehen. Weisen Sie dabei auf Stufen oder Unebenheiten hin. So bleiben Sie ständig in Kontakt. Das vermittelt Sicherheit.

Schwierig wird es für sehbehinderte oder blinde Menschen, wenn sich plötzlich etwas verändert: ein aufgerissenes Trottoir, das nicht mehr begehbar ist. Oder ein Haus wird renoviert und die Rohre des Baugerüstes blockieren den Gehweg. Da besteht akute Verletzungsgefahr für Sehbehinderte. Bieten Sie dann unverzüglich Ihre Hilfe an, und erklären Sie, warum.

Sozial kompetent handeln

Seien Sie nicht enttäuscht, wird Ihr Hilfsangebot abgelehnt. Sehbehinderte Menschen bewegen sich gerne selbstständig. Deshalb weichen Sehende auf Trottoirs aus und blockieren auf keinen Fall die weissen Führungslinien in und um Bahnhöfe. Diese Linien sind für Sehbehinderte wichtige Orientierungshilfen und sichern ein autonomes Bewegen in den markierten Zonen.

Nicht immer ist eine Sehbehinderung offensichtlich. Schwankende Personen werden schnell mal verurteilt, Alkohol konsumiert zu haben. Schauen Sie hin, und reagieren Sie, wenn nach Ihrem Empfinden Handlungsbedarf besteht.

Auch wenn die Technik Sehbehinderten betreffend Navigation einiges anbieten kann: Sozial kompetentes Handeln kann nach wie vor durch kein Gerät ersetzt werden.

* Doris Pfyl ist Knigge-Trainerin, Farb- und Modestilberaterin, Ausbildnerin Schweizer Fachverband FSFM; www.imagemodestil.ch