Interview
Ausweitung der Sterbehilfe: «Selbstbestimmung ist ein Trugschluss»

Auch Jugendliche sollen künftig Sterbehilfe in Anspruch nehmen können, sofern ein «unerträgliches Leiden» vorliegt. Die Ausweitung der Richtlinien widerspreche der ärztlichen Ethik, sagt Raimund Klesse von der Hippokratischen Gesellschaft.

Yasmin Kunz
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Sollen auch Jugendliche künftig für Sterbehilfe zugelassen werden? Diese Frage wird kontrovers diskutiert. (Bild: Getty)

Sollen auch Jugendliche künftig für Sterbehilfe zugelassen werden? Diese Frage wird kontrovers diskutiert. (Bild: Getty)

Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) will die Richtlinien punkto Sterbehilfe revidieren. Der Geltungsbereich soll ausgeweitet werden. Konkret sollen «Patienten, die den Wunsch nach medizinischer Hilfe zur Beendigung ihres Lebens äussern, unabhängig davon, ob der Tod bereits absehbar ist oder nicht», assistierten Suizid in Anspruch nehmen können. Bis dato, nach den Richtlinien von 2004, mussten Personen, die mittels Sterbehilfe aus dem Leben scheiden wollten, am Lebensende sein. Am 25. Oktober befinden rund 200 Dele­gierte über die Aufnahme der neuen Richtlinien in die Standesordnung.

Wird die Neufassung in die Standesordnung überführt, könnte künftig vom Arzt auch bei nicht tödlichen Krankheiten Beihilfe zum Suizid geleistet werden. Ausserdem wird der Geltungsbereich auf Kinder und Jugendliche, geistig beeinträchtigte und psychisch kranke Personen ausgedehnt. Dass die geplante Revision polarisiert, liegt auf der Hand. Während der Zentralvorstand der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH in der Vernehmlassung klar Stellung gegen die Neufassung bezogen hat, gibt es Ärzte, die die Revision gutheissen. Klar dagegen sind auch die Ärzte des Kantons Luzern (siehe Kasten).

Raimund Klesse (55) ist seit 2003 Präsident der Hippokratischen Gesellschaft Schweiz. Er warnt vor einem fundamentalen Paradigmenwechsel und betont, diese Anpassung sei unvereinbar mit der ärztlichen Ethik.

Raimund Klesse, wie sehen denn die ethischen Richtlinien für Ärzte aus?

Der Arzt hat die Aufgabe, Leben zu schützen, Gesundheit zu fördern und zu erhalten, Krankheiten zu heilen, Leiden zu lindern und Sterbenden beizustehen. Die Aufgabe eines jeden Mediziners ist es, den Patienten in allen Lebenssituationen beizustehen. Ein Arzt darf dem Patienten nicht schaden.

Was aber nicht per se gleichbedeutend ist, Beihilfe zum Suizid abzulehnen. Begleiteter Suizid kann unter Umständen auch heilend sein.

Mit dem Wortlaut, «Leben zu schützen», ist Beihilfe zum Suizid nicht vereinbar. Nach dem Suizid ist man tot und zwar unwiderruflich – mit Heilung hat dies nichts zu tun. Fest steht indes, die von der SAMW vorgeschlagene Neuerung widerspricht diametral der ärztlichen Ethik, die besagt, Leben zu erhalten.

Mit den Neuerungen sollen Menschen, die «unerträglich leiden», mittels assistiertem Suizid aus dem Leben scheiden können. Was heisst das konkret?

Leiden ist subjektiv. Jeder Mensch empfindet anders. Der eine leidet, wenn er Krebs hat, für einen anderen ist es «unerträgliches Leiden», wenn er älter und gebrechlich wird. Was Leiden bedeutet, ist von Person zu Person verschieden – einziger gleicher Nenner ist eine gewisse Verzweiflung, eine Notsituation, sei sie körperlicher oder seelischer Art. Leiden ruft danach, dass der Arzt alles unternimmt, Linderung zu verschaffen und Schwierigkeiten gemeinsam durchzustehen. Der Begriff «unerträgliches Leiden» ist dagegen ein Kampfbegriff der holländischen Euthanasieprotagonisten, um Patiententötungen zu rechtfertigen.

Ist die Begrifflichkeit bei den geplanten Änderungen Ihrer Ansicht nach das Hauptproblem?

Es ist ein Problem, aber weitaus bedenklicher finde ich, dass die Richtlinien neu auch Kinder und Jugendliche, geistig, psychisch und mehrfach Behinderte umfassen sollen. Das ist eine krasse Ausweitung der Reglementierung. Diese Personengruppen sind in Holland und Belgien heute bereits von Sterbehilfe betroffen.

Die SAMW argumentiert, dass es sich nur um Einzelfälle handeln wird.

Das ist falsch. Zahlen belegen das Gegenteil. Ein Beispiel: Seit der assistierte Suizid in der Schweiz so massiv propagiert wird, steigen die Zahlen der Personen, die davon Gebrauch machen, stetig an. In Holland, wo die Sterbehilfe noch liberaler geregelt ist, sind mittlerweile fast fünf Prozent aller Todesfälle auf Euthanasie zurückzuführen. Holland und Belgien gehen im Vergleich zur Schweiz noch einen Schritt weiter: Dort ist auch aktive Sterbehilfe erlaubt. Heisst: Nicht der Patient muss den letzten Schritt, das Trinken der tödlichen Medikamente ausführen, sondern der Arzt kann das tun. Je mehr man die Reglementierung öffnet, desto eher wird von einem Angebot Gebrauch gemacht und desto wahrscheinlicher ist eine weitere Ausweitung.

Wir leben in einer immer liberaler werdenden Gesellschaft. Alles scheint unter dem Stern der Selbstbestimmung zu stehen.

Ich stelle nicht in Abrede, dass Selbstbestimmung etwas Positives ist. Aber Selbstbestimmung beim Sterben ist ein Trugschluss. Denn: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er hat Freunde, Familie, Verwandte. Bei einem solchen Entscheid werden diese automatisch miteinbezogen. Wenn also die Ehefrau ihren Mann bittet, er solle doch ihretwegen am Leben bleiben, dann hat das auf seinen Entscheid einen Einfluss, genauso wie wenn sie sagt: dann rufen wir halt Exit an. ­Apropos Selbstbestimmung: Wenn ein Spital oder ein Heim Beihilfe zum Suizid in seinen Räumlichkeiten untersagt, nimmt es auch sein Recht auf Selbstbestimmung wahr und schützt so das fürsorgliche Klima der Institution.

Um auf die steigenden Zahlen zurückzukommen: Der Mensch entscheidet letztlich selber, ob er mittels Sterbehilfe aus dem Leben scheiden will. Was hat sich also in dieser Hinsicht geändert? Warum wollen immer mehr Menschen freiwillig sterben?

Wenn ich jetzt sage, es hat mit Werbung zu tun, dann tönt das sehr salopp, aber es trifft den Kern. Sterbehilfeorganisationen betreiben Propaganda. Diverse Filme wurden veröffentlicht und etliche Sendungen greifen das Thema auf. Dabei wird Sterbehilfe meistens als Lösung angepriesen. Nicht zuletzt – und das finde ich besonders tragisch – wird ein solcher Entscheid von den Kosten beeinflusst. Die Generation, die jetzt zwischen 80 und 90 Jahre alt ist, wuchs bescheiden auf. Wenn die Behandlung teuer ist oder sie stark abhängig sind von ihrem sozialen Umfeld, dann können Kosten oder die Angst, zur Last zu fallen, ein Beweggrund sein, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. In Kanada ging man sogar so weit, auszurechnen, wie viel Geld das Gesundheitswesen durch Euthanasie einsparen kann. Wenn das bei uns so weit kommt, ist das eine Bankrotterklärung der Gesellschaft.

Es gibt auch Alternativen zu assistiertem Suizid wie etwa Sterbe­hospiz oder Palliativabteilungen in Spitälern.

Genau, und nicht zu vergessen der Effort, der in den letzten Jahren bezüglich Suizidprävention betrieben wurde. Das ist schon fast widersinnig, oder? Es ist in etwa so, als ob man auf der einen Seite der Brücke ein Netz spannt, um Suizide zu verhindern, und auf der anderen steht eine Sterbehilfeorganisation und verteilt das tödliche Mittel, um das Paradoxe etwas zugespitzt bildlich zu untermalen.

Hand aufs Herz: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass die revidierte Version verabschiedet wird?

Die Chancen stehen gut, dass die Delegierten in der Ärztekammer diese Anpassung ablehnen.

Und wenn es wider Erwarten anders kommt?

Das wäre tragisch und würde nicht die Haltung der Ärzte wiedergeben! Wir als Bevölkerung müssen uns so oder so überlegen, wie wir mit dem alten Menschen, mit Krankheit und Verletzlichkeit umgehen wollen. In der Präambel der Schweizer Bundesverfassung heisst es: «...die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen…».

Ärztegesellschaften gegen neue Regelung

Die Luzerner FMH-Delegierten der Ärztegesellschaft werden die Überführung der neuen Richtlinien ablehnen, wie deren Präsident Aldo Kramis auf Anfrage unserer Zeitung sagt. Damit stellen sich die Luzerner Delegierten hinter die FMH. Die revidierten Richtlinien würden von ihrer ursprünglichen Zielsetzung, sterbenskranken Menschen zu helfen, abweichen und den Anwendungsbereich in erheblichem Masse ausweiten. «Das ist in vielerlei Hinsicht problematisch und hat auch weitreichende Auswirkungen auf die betroffenen Ärzte», sagt Aldo Kramis. Der Begriff des unerträglichen Leidens sei zu vage, zu unklar definiert, begründet Kramis den Entscheid. Der Hausarzt aus Emmenbrücke führt aus: «Die Richtlinien vor der Revision waren für den Arzt objektiv beurteilbar. Ein tödliches Leiden kann ein Mediziner feststellen. Ein unerträgliches Leiden hingegen stützt sich auf das subjektive Empfinden eines Patienten und ist für den Arzt nicht beurteilbar.» Der Begriff unerträgliches Leiden sei unbestimmt und hänge also massgeblich von der Einschätzung des Patienten und dessen Wertevorstellungen ab. (kuy)