Kolumne «Aussichten»
Umdenken sollen gefälligst die anderen! Warum es neue Ideen gerade in der Coronakrise so schwer haben

Ständig ist davon die Rede, welch tiefgreifende Veränderungen die aktuelle Krise hinterlassen werde. In vielen Bereichen kündigt sich allerdings eher ein «Weiter so» an. Überraschend ist das nicht.

Gregory Remez
Gregory Remez
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Was ist denn nun mit der neuen Normalität? Ist sie bereits da? Oder beginnt sie erst mit dem Ende der Pandemie? Hält sie sich bis dahin bereit, um dann mit einem Schlag ihre geballte, umwälzende Kraft zu entfalten? Seit Monaten wird davon geredet, welch tiefgreifende Veränderungen die aktuelle Krise hinterlassen werde – und wie wichtig jetzt ein fundamentales Umdenken wäre. Blickt man allerdings auf den Verlauf gegenwärtiger Debatten in Wirtschaft und Politik, ist nur wenig Neues, geschweige denn Originelles zu erkennen, das so etwas wie ein neues Zeitalter andeuten würde.

Ich spreche nicht von den augenscheinlichen Veränderungen, die sich derzeit wie dunkle Nebelschwaden durch unseren Alltag ziehen. Diese dürften sich ohnehin rasch wieder verziehen, sobald die Verbreitung des Virus dereinst gestoppt ist. Und dann dürfte es auch nicht lange dauern, bis wir uns bei Konzerten wieder unbesorgt in den Armen liegen, bei Begrüssungen unbeholfen drei feuchte Küsse auf die Wangen drücken und bei Apéros hemmungslos in den persönlichen Raum anderer eindringen.

Vielmehr meine ich gesellschaftspolitische Fragen. Herausforderungen, die uns schon vor der Pandemie beschäftigt haben und es auch lange danach werden – die Klimakrise, das helvetische Verhältnis zur Europäischen Union, die überfällige Reform der Altersvorsorge, die wachsende soziale Ungleichheit, die Auswirkungen des meritokratischen Bildungssystems, um einige zu nennen.

Hier scheint das ach so disruptive Virus bisher keine Bewegung entlang bekannter Konfliktlinien zu bewirken. Im Gegenteil. Vielmehr sehen sich viele durch Corona in ihren bisherigen Ansichten bestätigt. So trällert mancher Wirtschaftsvertreter zurzeit noch inbrünstiger die alte Kapitalismushymne – schliesslich wäre die rekordschnelle Entwicklung der Impfstoffe ohne individualistische Wettbewerbsgesellschaft undenkbar gewesen.

Die Gegenseite sieht in der aktuellen Situation hingegen einen hochwillkommenen Anlass, dem entfesselten Kapitalismus endlich den Garaus zu machen. Papst Franziskus zum Beispiel, ein Kapitalismuskritiker vor dem Herrn, ruft die Welt in seiner jüngsten Enzyklika zu einem weitreichenden Mentalitätswandel auf:

«Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen.»

Bei anderen Themen verhält es sich nicht anders. Ökologen etwa sehen die Vorzüge der auferlegten Restriktionen bewiesen, nicht nur wegen der positiven Auswirkungen auf das Klima, sondern weil sich damit neuerdings auch die Ausbreitung des Virus stoppen lässt. Ökonomen finden dagegen, dass Wachstum jetzt unbedingt Vorrang vor dem Umweltschutz haben sollte, um die wirtschaftlichen Schäden zu minimieren. Die EU will gegen Corona mehr Europa, die Brexiteers feiern dagegen, dass sie es genau noch rechtzeitig raus geschafft haben.

Jeder propagiert einfach das, was ihm schon immer das Liebste war, und definiert sich durch Abgrenzung zum Rest. Neue Denkanstösse oder Neujustierungen der eigenen Position sind bei den meisten der genannten Debatten nicht zu erkennen. Umdenken sollen gefälligst die anderen. Auch hier scheint Corona bisherige Tendenzen und Entwicklungen eher zu beschleunigen als aufzuhalten oder gar umzukehren.

Schien es etwa im vergangenen Frühjahr noch so, als könnte die Pandemie der wachsenden Polarisierung einen Riegel schieben und die Menschen im Kampf gegen den unsichtbaren Gegner – auch über Ländergrenzen hinweg – vereinen, haben sich diese Hoffnungen inzwischen verflüchtigt. Mit zunehmender Dauer der Krise ist gar eine Radikalisierung auszumachen. Die Gräben, etwa zwischen Impfbefürwortern und Impfskeptikern, die sich zuweilen mitten durch Familien ziehen, sind in den letzten Wochen und Monaten jedenfalls kaum kleiner geworden.

Die heraufbeschworene neue Normalität dürfte sich insofern gar nicht so sehr von der alten unterscheiden, wie viele glauben – oder befürchten. Es stellt sich eher die Frage, was genau mit ihr gemeint ist. Ein gesteigertes Bewusstsein für grundlegende Fragen der Gesundheitsversorgung und Investitionen in die Prävention gegen künftige Epidemien? Hoffentlich. Ein beschleunigter digitaler Wandel? Klar, aber vollzog sich der schon vorher nicht gerade im Schneckentempo.

Anderswo wird sich dagegen zeigen müssen, wie tiefgreifend die Veränderungen tatsächlich sein werden. In vielen Bereichen kündigt sich eher ein «Weiter so» an. Kommt hinzu, dass Corona derzeit wie ein schwarzes Loch wirkt, dessen Gravitation die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Raum für neue Ideen bleibt da nur wenig.