Analyse zur mutmasslichen Affäre von Frankreichs Präsident François Hollande
Pudding, feurige Briefe und Schüsse

Ein Schuss erschütterte vor genau hundert Jahren die Massen. Freilich nur die französischen – ein Schuss nach einer Liebesaffäre.

Max Dohner
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Es war nicht jener Schuss in Sarajevo, der am 28. Juni 1914 das Leben des Thronfolgers von Österreich-Ungarn auslöschte und der letztlich zum Ersten Weltkrieg führte. Es war ein Schuss mitten in Paris, am helllichten Tag, am 16. März 1914. Auch dieser Schuss hatte möglicherweise historische Folgen. Nämlich die, dass sich der Krieg eventuell noch hätte verhindern lassen. Doch lässt sich darüber nur noch spekulieren. Der Schuss ging zurück auf ein Liebesdrama, war also typisch französisch.

Der französische Finanzminister damals, Joseph Caillaux, hatte eine leidenschaftliche Affäre. Er war verheiratet, und die Sache wurde heftig. Er liess sich scheiden und heiratete die Geliebte, die spätere Henriette Caillaux. Ihren feurigen Liebesbriefen schenkten die beiden fortan keine Beachtung mehr. Mit der Veröffentlichung genau dieser Briefe begann dann aber ein Journalist zu drohen: Gaston Calmette, der Chefredaktor des Pariser «Figaro». Calmette verachtete den Minister und geisselte ihn wiederholt wegen seiner Haltung für die Einkommenssteuer und gegen den Krieg. Also begab sich Madame Caillaux im März 1914 ins Büro des Zeitungsfritzen und streckte ihn mit ein paar Revolverschüssen aus ihrem Muff kommentarlos nieder. Noch gleichentags demissionierte der Minister.

In Kommentaren wird jene Affäre vor hundert Jahren zwar nicht verglichen mit der jetzigen, wahrscheinlichen Liebesaffäre zwischen Staatspräsident François Hollande und der Schauspielerin Julie Gayet. Aber die Kommentatoren, nicht bloss in Frankreich selber, wundern sich, wieso eine solche Affäre gerade jetzt so sehr zum Klatschstück wurde. Denn die übliche Fasson sei es doch, Liebesgetändel der hohen französischen Politik diskret, tolerant bis gleichgültig zu behandeln. Warum schäumt eine «Privatsache» jetzt derart auf? Der 59-jährige Hollande rügte sofort die Verletzung seiner Privatsphäre. Und der Grüne Daniel Cohn-Bendit leistete Sukkurs: Die journalistischen Taktlosigkeiten gegenwärtig, sagte er, seien «zum Kotzen».

Tatsächlich genossen Vorgänger von François Hollande ungleich mehr Diskretion. Auch François Mitterrand und vor allem der konservative Jacques Chirac hatten ihre Geheimnisse. So wussten viele Journalisten, dass Mitterrand ein Doppelleben geführt hatte. Seine Nebenfrau Anne Pingeot und Tochter Mazarine lebten als Parallelfamilie. Jacques Chirac, der seine speichelfeuchte Koketterie selbst an offiziellen Bällen vor Kameras nicht zügeln konnte, liess sich nächtens jeweils vom Chauffeur durch Paris kutschieren, auf der Suche nach kurzen Rendezvous mit Damen. Nicolas Sarkozy war zunächst zurückhaltender: Im Wahlkampf wurde er 2005 von seiner Gattin verlassen und depressiv. Die Freude über Carla Bruni danach und vor allem die Fotos der beiden vor ägyptischen Pyramiden oder im Beisein von Stars und Reichen ermöglichten es Hollande später, sich als Normalo zu präsentieren, auch wenn ihm dies das nicht gerade sexy Etikett des «Pudding» einbrachte.

Der Vergleich zur Affäre Henriette Caillaux vor hundert Jahren ist darum aufschlussreich: Er zeigt, dass «Privatsache» in der französischen Politik ein höchst volatiler Wert ist. Abhängig von einer ganzen Reihe von Faktoren. Wohl zuletzt von pikanten Details wie dem Motorroller, mit dem Hollande zur Geliebten getuckert sein soll. Oder den Croissants, die er mitbrachte. Nicht mal der augenscheinliche Zusammenbruch von Valérie Trierweiler, Hollandes als eifersüchtig geltenden Lebenspartnerin, erscheint zureichend dramatisch für so viel Aufregung. Und die korsischen Briganten im Wohnumfeld des Liebespaars wirken erst recht als Operettenzierrat. Nein, die aufwallenden Wogen müssen vermutlich auch durch politische Dünung mitbewegt werden. Das dürfte sich erst beim Verblassen des Boulevard-Pulverdampfs zeigen.

Hollande, Chirac, Mitterrand oder auch der als IWF-Chef gestürzte Dominique Strauss-Kahn – sie alle variieren ein altes französisches Muster. Sie sind lediglich die Rollenträger, die Protagonisten und fallweise sogar die Kasperlifiguren dieses Musters. Sie glauben zu agieren. Aber meist werden sie, mehr oder weniger zufällig, zu Akteuren bestimmt – vom Muster. Das ist das jahrhundertealte System von Politik per Mätresse. Es zieht sich faszinierend durch die Jahrhunderte. Faszinierend deshalb, weil das Muster mit seinen jeweiligen Figuren unglaublich romanhaft-reale Geschichten und Episoden erfand. Romane über Karrieren via Amouren sind darum ein eigentliches Genre in Frankreich – kein Wunder, bei der Fülle des Materials! Noch aber hat das Bürgertum nicht annähernd die Meisterschaft der französischen Könige erreicht, dieses System auszufeilen. Es bleibt nach wie vor beim «Pudding».