VERFASSUNGSREFERENDUM: «Behandelt wie Gäste, die wieder gehen»

Deutschland rätselt über die türkischen Mitbürger: Sie leben in Freiheit und Demokratie, sagen aber Ja zu Erdogans antidemokratischen Plänen in der Türkei. Die Wählerstatistik befeuert die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft.

Christoph Reichmuth, Berlin
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In Deutschland stimmten viele Türken für die von Erdogan angestrebte Verfassungsreform. (Bild: Fabrizio Bensch/Reuters (Berlin, 16. April 2017))

In Deutschland stimmten viele Türken für die von Erdogan angestrebte Verfassungsreform. (Bild: Fabrizio Bensch/Reuters (Berlin, 16. April 2017))

Christoph Reichmuth, Berlin

Mesut, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, wartet mit seinem Taxi beim Berliner Hauptbahnhof auf Kundschaft. Reden über das Referendum in seiner Heimat will er zuerst nicht, dann aber spricht er doch, wenn auch vorsichtig. Der 37-Jährige hat mit Nein votiert. Warum, das kann er nicht recht erklären. «Ich weiss nicht, was Erdogan plant. Ich möchte bloss in Ruhe leben, und ich möchte, dass meine Familie in der Türkei in Frieden lebt.» Mesut hat auf sein Bauchgefühl gehört. Er habe Angst um die Sicherheit seiner Eltern in Istanbul.

Am Tag zwei nach dem knappen Ja zum Verfassungsreferendum, dessen Annullierung die türkische Opposition gestern wie angekündigt beantragt hat, sucht Deutschland nach einer Erklärung für das Wahlverhalten der in seinem Land lebenden Türken. 63,1 Prozent der Deutschtürken haben für die Verfassungsreform von Präsident Recep Tayyip Erdogan votiert, das ist ein deutliches Ja im Vergleich zu der knappen Zustimmung von insgesamt 51,3 Prozent. Während türkische Metropolen wie Istanbul oder Ankara den Plänen für ein Präsidialsystem gar eine Absage erteilt haben, war die Unterstützung für Erdogan in ­einigen deutschen Städten wie Essen (75,9 Prozent Ja-Stimmen), Stuttgart (66,3) oder Düsseldorf (69,6) geradezu wuchtig. Die türkische Gemeinde in Berlin (50,3 Prozent Ja-Stimmen) ist dagegen gespalten.

«Man muss sich zu unserer Verfassung bekennen»

Wie können Personen, die in einer Demokratie leben, Pläne für den Aufbau einer Autokratie mit Todesstrafe und der Unterdrückung Andersdenkender in ihrer zweiten Heimat unterstützen? Cem Özdemir, Parteichef der Grünen, fordert ein Bekenntnis der Deutschtürken zu ihrer Wahlheimat. «Es gibt offensichtlich unter den Deutschtürken diejenigen, die glauben, es reiche aus, wenn man nur mit den Zehenspitzen auf dem Grundgesetz steht. Man muss sich aber schon ganz zu den Werten und zur Verfassung unseres Landes bekennen, wenn man hier auf Dauer glücklich werden will.»

Özdemir sieht Fehler in der Integrationspolitik der vergangenen Jahre. «Wir brauchen eine Strategie, die zum Ziel hat, Kopf und Herz der Deutschtürken zu erreichen.» Ähnlich sieht das die türkischstämmige SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe. Im Gespräch mit unserer Zeitung spricht sie von einer verfehlten Integrationspolitik. «Viele Türken sind als Gastarbeiter in das Land gekommen – und wurden als Gäste, die bald wieder gehen, behandelt.» Die Sozialdemokratin fordert eine stärkere politische Teilhabe der Türken. «Menschen, die nicht mitreden dürfen, fühlen sich auch nicht als Teil der Gesellschaft. Dann taucht jemand wie Erdogan auf, der vorgibt, sich um diese Menschen zu kümmern.»

Die Türkei erhält bis 2020 EU-Beitrittshilfen in der Höhe von 4,5 Milliarden Euro. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach: «Die Milliardenzahlungen sollten umgeschichtet und zur Bekämpfung von Fluchtursachen verwendet werden.»

Das deutliche Ja der Deutschtürken zu Erdogans Plänen verleiht auch der Forderung der Union aus CDU und CSU Auftrieb, die Bedingungen für die 2014 eingeführte doppelte Staatsbürgerschaft zu verschärfen. Einwanderer der zweiten und dritten Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, sollen sich für eine Staatszugehörigkeit entscheiden, so die Forderung. Einig sind sich SPD und Union darin, die Türkei aus dem Europarat zu werfen, sollte das Land die Todesstrafe einführen. Allerdings ­ soll die Türkei weiterhin Mitglied der Nato bleiben, so Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen: «Die Entwicklung in der Türkei macht es uns schwer, aber keiner sollte glauben, dass eine Türkei ausserhalb der Nato einfacher ist im Umgang als eine Türkei in der Nato.»

Taxifahrer Mesut hat Kundschaft bekommen. «Europa braucht die Türkei, und die Türkei braucht Europa», sagt er zum Abschied. Vielleicht, sinniert er, hätten so viele seiner Landsleute mit Ja votiert, weil die Türkei in Deutschland seit Monaten in der Kritik stehe. «Es fehlt an Respekt uns Türken gegenüber.»