VERTEIDIGUNG: Ex-Merkel-Berater Erich Vad: «Ohne die USA geht es nicht»

Eine EU-Armee anstelle der Nato? Eine Illusion, sagt Erich Vad. Im Verhältnis des Westens zu Russland plädiert der frühere militärpolitische Berater Angela Merkels für Entspannung. Die grosse Herausforderung gehe von einem anderen Land aus.

Isabelle Daniel
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Sicherheitsexperte Erich Vad in Hochdorf, wo er diese Woche an einem Podium auftrat. (Bild: Nadia Schärli (15. November 2017))

Sicherheitsexperte Erich Vad in Hochdorf, wo er diese Woche an einem Podium auftrat. (Bild: Nadia Schärli (15. November 2017))

Interview: Isabelle Daniel

Erich Vad, Sie haben vor der Bundestagswahl in Deutschland mehr verteidigungspolitisches Engagement gefordert. Wenn die Jamaika-Verhandlungen erfolgreich zu Ende gehen, regiert in Deutschland bald eine Koalition aus vier Parteien, die teilweise sehr unterschiedliche verteidigungspolitische Haltungen vertreten. Kann sich Deutschland in den nächsten vier Jahren verteidigungspolitisch überhaupt neu aufstellen?

Es gibt einen fraktionsübergreifenden Konsens, dass wir in die Verteidigung mehr investieren müssen. Das ist auch im Kontext der Initiative zu einer verstärkten ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im EU-Rahmen deutlich zu erkennen. Strittig ist aber die Höhe: Ob das von der Nato angegebene Ziel, 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes in die Verteidigung zu investieren, konsensfähig ist, muss sich zeigen. Insgesamt setze ich eher auf Kontinuität in der Aussen- und Sicherheitspolitik als auf eine Trendwende.

Auch mit Blick auf das transatlantische Verhältnis, das sich mit Donald Trump als US-Präsident in einer Krise befindet?

Ja, auch mit Blick darauf. Alle EU-Staaten zusammen kommen auf etwa 50 Prozent des amerikanischen Verteidigungsetats, ihre militärische Effizienz liegt bei 15 Prozent im Vergleich zur amerikanischen. Ohne die USA ist eine europäische Verteidigung schlicht nicht organisierbar. Sicherheitspolitisch ist völlig klar, dass Europa und die USA die neuen globalen Machtverhältnisse nur gemeinsam balancieren können – auch im Rahmen einer sicher reformbedürftigen, aber dennoch wichtigen Nato. Dies umso mehr angesichts dessen, dass sich die geopolitischen Verhältnisse in Richtung einer bipolaren Weltordnung bewegen.

Bipolar? Meist ist doch eher die Rede von der Entwicklung einer multipolaren Welt seit dem Ende des Kalten Krieges.

Das ist zwar richtig. Mit Blick auf die Stärke der USA und die aufstrebende Macht China können wir aber auch beobachten, wie sich jetzt eine Art «G2» anbahnt. In dieser Weltordnung müssen wir uns als Europäer für ein Wertesystem entscheiden. Makropolitisch stellt sich die Frage: Wie will Europa die Macht Chinas und Russlands, aber auch die Schwierigkeiten mit der Türkei allein ausbalancieren? Das geht ohne die USA nicht.

Über den Umgang mit der Türkei und mit Russland wird in Europa viel gestritten. Wer ist für die Nato gefährlicher: Erdogan oder Putin?

Nicht unbedingt gefährlicher, aber schwieriger für die Nato ist Erdogan. Die Frage ist: Wie halten wir die Türkei trotz ihrer innenpolitischen Entwicklung weiter im Bündnis? Ein Nato-Austritt der Türkei würde aus meiner Sicht zu einem Ende des Bündnisses führen, weil wir dadurch massiv an Einfluss im Nahen und Mittleren Osten verlieren würden, den man gar nicht kompensieren kann. Letztlich ist die Nato aber auch ein Rahmen, in dem man verhindern kann, dass sich die Türkei allzu weit vom Westen entfernt.

Die innere Krise ist für die Nato also die grössere Herausforderung als die aggressive russische Aussenpolitik?

Moskau hat mit der Annexion der Krim und seinem Vorgehen in der Ostukraine gezeigt, dass es Verträge unter Umständen nur als Papier betrachtet. Damit stellt es eine Gefahr dar, ja. Trotzdem würde ich an den Westen appellieren, die russische Situation ein bisschen empathischer zu sehen. Das Verschieben der Nato-Grenze Tausende Kilometer weiter in Richtung der russischen Interessensphäre wirkt aus Moskauer Sicht bedrohlich.

Die Ukraine als Interessensphäre Russlands zu sehen, hiesse allerdings, die Souveränität des Landes in Frage zu stellen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das selbstverständlich auch für die Ukraine gilt, muss selbstverständlich international anerkannt werden. Aber die realpolitischen Verhältnisse sind oft andere. Ausserdem ist das Denken in Interessensphären kein rein russisches Phänomen. Das trifft genauso auf China und die USA zu. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Grossmächte tun können, was sie wollen! Aber man muss es trotzdem als politischen Faktor anerkennen.

Hat Putin mit seiner Aussenpolitik die Einschätzung Barack Obamas widerlegt, bei Russland handele es sich nur um eine «Regionalmacht»?

Diese Bemerkung Obamas war in der Sache zwar richtig, aber politisch natürlich sehr unklug. Letztlich hat er die Russen damit motiviert zu zeigen, dass sie falsch ist. Russland ist aus den aktuellen Konflikten dieser Welt als Verhandlungspartner nicht wegzudenken – auch das gehört zum politischen Erbe Obamas. In Syrien haben die Amerikaner ein machtpolitisches Vakuum hinterlassen, in das Russland vorgestossen ist. Ähnlich in Libyen. Als Europäer müssen wir uns fragen, wie wir – auch als Teil des freien, liberalen Westens – weiter als Akteur in der Welt wahrgenommen werden wollen.

Bisher tritt Europa als solcher Akteur kaum in Erscheinung – weder in der Ukraine noch in Syrien. Wie sollte es sich nach den Versäumnissen der letzten Jahre jetzt verhalten?

Wir müssen auf Zeit spielen – und anerkennen, dass Russland nun mal ein Faktor in der Bewältigung der Syrien-Krise ist, ebenso in Libyen, in der Ukraine und im Konflikt mit Nordkorea. Russland hat nach dem Ende des Kalten Krieges schon einmal bewiesen, dass es ein gutes Verhältnis zum Westen will. Moskau hat damals die Nato-Erweiterung akzeptiert, auch weil der Westen zu grossen politischen Zugeständnissen bereit war. Russland wurde Mitglied der G8, der WTO, beim IWF und der Weltbank. Es hat aber auch im Rahmen von Partnership for Peace mit der Nato kooperiert. Im Vergleich zu den 90er-Jahren fehlt dem Westen heute allerdings eine aussenpolitische Linie. Auch hier könnte sich Europa jetzt hervortun, indem es, im Gespräch mit den USA, strategische Linien aufzeigt.

Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat die «New York Times» Angela Merkel als «letzte Verteidigerin der freien Welt» bezeichnet. Könnte die deutsche Kanzlerin den US-Präsidenten in dieser Rolle ersetzen?

Ich glaube das nicht. Gegenüber den vielen starken Männern, die derzeit weltweit das Sagen haben, ist Merkel natürlich eine verlässliche Grösse für den Westen. Das war damit wohl gemeint. Aber Deutschland hat nicht die Power, Amerika zu ersetzen. Die Europäer müssen ihre sicherheitspolitische Strategie gemeinsam mit Amerika entwickeln.

Am Montag haben 23 EU-Länder ein Papier zur verstärkten militärischen Zusammenarbeit unterzeichnet. Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sprach anschliessend von einem «grossen Tag für Europa». Könnte mittelfristig eine EU-Armee an die Stelle der Nato rücken?

Ich halte das für absolut illusorisch, schon aus materiellen Gründen. Aber auch der politische Wille dafür ist überhaupt nicht da. Das hat auch mit einer ganz unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmung innerhalb Europas zu tun. Während die östlichen Nato-Staaten mit Sorge vor allem nach Russland blicken, schauen die südlichen Länder eher nach Nordafrika. Gerade deshalb ist es ja so wichtig, das Nato-Bündnis mit den Vereinigten Staaten als Primus inter Pares am Leben zu halten. Das schliesst eine europäische Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik nicht aus. Falsch wäre es aber, Funktionen zu duplizieren, statt Ergänzungen zu schaffen. Besser wäre es etwa, die EU würde sich mehr um den Schutz der EU-Aussengrenzen kümmern, als zu versuchen, eine militärische Parallelorganisation im Sinne einer EU-Armee aufzustellen.

Wäre es – angesichts dieser vielen verschiedenen Bedrohungswahrnehmungen – aus verteidigungspolitischer Sicht nicht besser, wir hätten wieder eine bipolare Welt wie zu Zeiten des Kalten Krieges?

Ich sehe die grosse Herausforderung für den liberalen Westen nicht in Russland, sondern in China. Durch die Neue-Seidenstrassen-Initiative rückt China wirtschaftlich bis ins Zentrum Europas vor. Wir Europäer müssen aufpassen, dass wir nicht zu einer Art Appendix einer von China beherrschten eurasischen Ordnung werden. Natürlich muss man ein kritisches Auge auf Russland haben. Fakt ist aber auch: Russland hat gar keine Alternative zu einem guten Verhältnis mit dem Westen.

Sind also die Ängste der östlichen Nato-Länder unbegründet?

Russland könnte das Baltikum innerhalb von 36 Stunden besetzen, wenn es das wollte, und die Nato hätte dem nichts entgegenzusetzen. Das wird aber nicht passieren, weil die Nachteile einer solchen Invasion für Russland absolut überwiegen würden. Russland braucht den Westen. Deshalb sollten wir die Tür für Russland offen lassen.

China als grösste Bedrohung: Das sagte auch Trump während seines Wahlkampfes. Hatte er also recht?

Ich spreche ja nicht von Bedrohung, sondern von Herausforderung. China geht sehr behutsam in seiner Aussenpolitik vor. Man kann China jedenfalls nicht vorwerfen, mit Waffengewalt Interventionen durchzuführen, wie es die Amerikaner in den letzten Jahren gemacht haben. Trotzdem bildet China schon aufgrund seines politischen, wirtschaftlichen, demografischen und kulturellen Gewichts ein Gegenmodell zur westlichen Welt. Der legendäre chinesische General Sunzi hat schon vor 2500 Jahren gesagt: «Es kommt darauf an, ohne Kampf zu siegen.» China geht geopolitisch ganz anders vor als etwa die USA, seine Macht fordert aber das westlich-­liberale Lebensmodell heraus.