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Schweiz
Ihr Heimatland ist sicher. Dennoch leben viele abgewiesene Asylbewerber aus Serbien, dem Kosovo, Bosnien und anderen Balkanstaaten in der Schweiz – als vorläufig Aufgenommene. Jetzt ergreift der Bund eine Massnahme.
Für mehr als 3000 Personen aus Balkanstaaten steht das Bleiberecht in der Schweiz auf dem Spiel. Im nächsten Jahr will das Staatssekretariat für Migration (SEM) gezielt überprüfen, ob die Menschen aus Ex-Jugoslawien weiterhin als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz leben dürfen. Dies geht aus einer Antwort des Bundesrats auf einen Vorstoss der Zürcher SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann hervor.
In der Schweiz vorläufig aufgenommen werden Personen, die einen negativen Asylentscheid erhalten, wegen Unzumutbarkeit aber nicht weggeschickt werden können. Unzumutbar ist eine Rückkehr ins Heimatland, wenn dortzum Beispiel Krieg, Bürgerkrieg, allgemeine Gewalt oder eine medizinische Notlage herrscht. Derzeit gewährt die Schweiz gut 36 000 Personen die vorläufige Aufnahme (siehe Grafik).
Der Bund führt eine Liste mit Ländern, in denen Personen keine Verfolgung befürchten müssen. Zu diesen sogenannten «safe countries» zählen auch sämtliche Staaten auf dem Balkan. Dennoch befanden sich Ende Oktober mehr als 3000 Personen aus dieser Region als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz, die meisten davon aus Serbien (1450), dem Kosovo (866) und Bosnien-Herzegowina (509). Sogar 13 Kroaten und 9 Bulgaren, also 22 EU-Bürger, profitieren von diesem Status.
Barbara Steinemann kann das nicht verstehen. «In diesen Ländern herrscht Frieden. Ich erwarte, dass der Bund einen grossen Teil der vorläufig Aufgenommenen dorthin zurückschickt», sagt sie. Steinemann führt auch finanzielle Argumente ins Feld. Die Erwerbsquote bei vorläufig Aufgenommenen ist tief, derzeit liegt sie bei 30,8 Prozent. Als Mitglied der Sozialbehörde der Gemeinde Regensdorf habe sie die Erfahrung gemacht, dass praktisch alle vorläufig aufgenommenen Serben und Kosovaren von der Sozialhilfe lebten, erzählt Steinemann. «Andere Gemeinden berichten dasselbe», sagt sie. «Wenn der Bund nicht handelt, laufen die Kosten für die Fürsorge bei den Gemeinden noch stärker aus dem Ruder.»
Vorläufig aufgenommene Personen müssten die Schweiz eigentlich verlassen. Sie dürfen nur im Land bleiben, weil die Wegweisung nicht vollzogen werden kann. Pro Jahr überprüft das SEM 1000 bis 1500 vorläufige Aufnahmen. Nur selten aberkennt es diesen Status. 2015 etwa hob es in 21 Fällen das Bleiberecht auf, in diesem Jahr bis jetzt in 14 Fällen. Gleichwohl fallen rund 3000 bis 4000 Personen aus der Statistik der vorläufig Aufgenommenen. Die meisten von ihnen bleiben im Land, weil sich ihr Status verbessert. 2015 erhielten 1766 Personen eine Aufenthaltsbewilligung. Sie profitierten von einer Härtefallregelung: Wer seit fünf Jahren in der Schweiz lebt, kann eine Aufenthaltsbewilligung beantragen. Andere vorläufig Aufgenommene bekamen durch Einbürgerung, Heirat oder Asylgewährung ein Aufenthaltsrecht. Nur die wenigsten vorläufig Aufgenommenen verlassen die Schweiz freiwillig. Im letzten Jahr waren es 150 Personen. Kurzum: In der Praxis bedeutet die vorläufige Aufnahme ein definitives Aufenthaltsrecht.
In seinem aktuellen Bericht weist der Bundesrat darauf hin, dass die Wegweisung wegen Hindernissen oft lange nicht vollzogen werden kann. Fallen die Hindernisse weg, seien die Personen oft schon so lange in der Schweiz, dass eine Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr zumutbar sei.
Zurück zu den vorläufig Aufgenommenen aus den Balkanstaaten. Ein Bürgerkrieg wie bei Flüchtlingen aus Syrien kann nicht der Grund für das Bleiberecht sein. Die Region ist seit längerer Zeit befriedet. Weshalb bietet der Bund dennoch so vielen Personen aus Ex-Jugoslawien Schutz? Detailliert aufschlüsseln kann der Bundesrat die Gründe nicht. Er schätzt, dass die Rückführung bei 90 Prozent aller Serben und Kosovaren unzumutbar ist. Unzumutbar könne die Wegweisung etwa für besonders verletzliche Personen wie alte Menschen oder alleinerziehende Mütter sein. Zudem werde das Kindswohl berücksichtigt, vor allem bei Familien, die schon mehrere Jahre in der Schweiz lebten, schreibt der Bundesrat in der Antwort auf Steinemanns Vorstoss. Auch eine Krankheit respektive eine medizinische Notlage kann eine Rückführung verhindern. Ob es sich bei den vorläufig aufgenommenen Personen aus dem Balkan in vielen Fällen um Angehörige der Minderheit der Roma handelt, die in ihrer Heimat unter Diskriminierung leiden, weiss das SEM nicht. Es führt nur eine Statistik nach Ethnien.
Offen bleibt, wie vorläufig Aufgenommene das SEM nach der gezielten Überprüfung der Balkandossiers zurückschicken wird. Die Massnahme als solche bedeute keine Verschärfung der Praxis, sagt SEM-Sprecherin Léa Wertheimer. Die vorläufigen Aufnahmen würden laufend überprüft. Barbara Steinemann wird sich derweil im nächsten Jahr erkundigen, wie viele vorläufig Aufgenommene aus Ex-Jugoslawien zurückgeschickt worden sind. Die SVP-Politikerin kritisiert, dass sich darunter Personen befinden, «die sich seit den Zeiten des Jugoslawienkriegs ununterbrochen hier befinden, ohne je gearbeitet zu haben».
Vorläufig heisst in der Regel definitiv: Auch der Bundesrat findet die Situation bei den vorläufig Aufgenommenen «unbefriedigend», wie er in einem aktuellen Bericht festhält. Der Grund liegt auf der Hand: Die Bezeichnung stimmt nicht mit der Realität überein. Ein Zahlenbeispiel: Zwischen 2001 und 2010 wurden 49000 Personen vorläufig aufgenommen. Im gleichen Zeitraum erhielten 46000 Personen eine Aufenthaltsbewilligung – trotz negativem Asylentscheid. Der Bundesrat will die vorläufige Aufnahme nun durch einen neuen Status ersetzen: die Schutzgewährung.
Faktisch ändert sich für die Betroffenen nicht viel. Der neue Titel soll aber der Wirtschaft vermitteln, dass Personen mit Schutzgewährung längerfristig in der Schweiz bleiben. Laut dem Bericht des Bundesrates gehen nämlich viele potenzielle Arbeitgeber davon aus, dass vorläufig Aufgenommene nur für kurze Zeit im Land bleiben oder grundsätzlich nicht arbeiten dürfen, wie dies bei Asylsuchenden während der ersten drei Monate der Fall ist. Der neue Status dient deshalb dazu, die Integration der vorläufig Aufgenommenen in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Der Handlungsbedarf ist unbestritten. Nur jeder dritte vorläufig Aufgenommene hat einen Job. Mehr als vier Fünftel leben von der Fürsorge. Der Bund spricht sich auch für zusätzliche Aus- und Weiterbildungsmassnahmen aus, weil «Personen aus dem Asylbereich in vielen Fällen die für den Schweizer Arbeitsmarkt notwendigen Qualifikationen nicht oder nur ungenügend erfüllen», wie es im Bericht des Bundesrats heisst.
Mit dem Schutzstatus sollen die vorläufig Aufgenommenen auch einfacher den Kanton wechseln dürfen. Anstatt nach drei sollen die vorläufig Aufgenommenen künftig schon nach zwei Jahren ein Gesuch um Familiennachzug stellen können. Die Bedingungen bleiben gleich: Sie dürfen keine Sozialhilfe beziehen und müssen über eine genügend grosse Wohnung verfügen. Die meisten vorläufig Aufgenommenen stammen derzeit aus Eritrea, Syrien und Afghanistan.
Kari Kälin