Geheimdienst Rainer Schweizer ist emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen und Fachmann für Fragen des Polizei- und Staatsschutzrechts. Er ist ein scharfer Kritiker des neuen Nachrichtendienstgesetzes, das am 25. September 2016 an der Urne klar angenommen wurde.
Bietet das Gesetz eine genügende Grundlage dafür, dass die Kantone Tausende Strafurteile automatisch an den Nachrichtendienst liefern?
Nein, ich halte das für ausgemachten Unsinn. Das heutige Bundesgesetz über die Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit sieht eine Auskunft auf Anfrage vor. Hintergrund dafür ist das alte Problem, dass die Kantone den Bundesstellen oft die Informationen verweigerten. Darum wurde eine Auskunftspflicht ins Gesetz aufgenommen. Eine automatische Lieferung von Entscheiden ist durch den entsprechenden Artikel aber nicht abgedeckt. Es ist höchst problematisch, wenn ganze Vorgänge im Strafbereich an den Nachrichtendienst weiterzumelden sind, selbst wenn diese nicht jene vier schweren Delikte betreffen, für die der Nachrichtendienst im Inland zuständig ist, also den verbotenen Nachrichtendienst, den Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie den gewalttätigen Extremismus.
Im neuen Nachrichtendienstgesetz ist die Auskunftspflicht aber weiterhin vorgesehen.
Auch das halte ich für problematisch, zumal der Handlungsbereich des Nachrichtendienstes stark ausgedehnt wurde. Das neue Gesetz erlaubt Massnahmen zur Wahrung der Handlungsfähigkeit der Schweiz, was auch immer darunter verstanden wird. Da wären selbst Recherchen des Nachrichtendienstes im Finanzmarkt denkbar.
Heute weisen die Strafbehörden offenbar den Geheimdienst auch auf Verdachtsfälle hin, bei denen gar nie ein Verfahren eröffnet wird. Ist das angemessen?
Nein. Aus der Logik des Nachrichtendienstes kann man das zwar noch nachvollziehen, weil er sich ja nicht mit Verdächtigungen beschäftigt, sondern mit potenziellen Gefährdungen. Aber wenn die Strafverfolgungsbehörden eine Anzeige nicht an die Hand nehmen und gar kein Verfahren eröffnen, macht das ja deutlich, dass nach Strafrecht nicht einmal ein Anfangsverdacht besteht. Dass in solchen Fällen der Nachrichtendienst abklären will, ob nicht doch noch eine Gefährdung besteht, führt zu einer Informationsflut, die gar nicht mehr sinnvoll bewältigt werden kann.
Meldungen erhält der NDB auch bei Verfahren wegen der Anti-Rassismus-Strafnorm. Ist das sinnvoll?
Meines Erachtens ergibt auch hier eine flächendeckende Lieferung von Entscheiden der kantonalen Behörden keinen Sinn. Ein leitender Staatsanwalt oder Strafgerichtspräsident ist in der Lage, zu beurteilen, ob ein Entscheid für den Nachrichtendienst interessant ist. Warum sollen Urteile, die nicht das Geschäft des Nachrichtendiensts betreffen, überhaupt an ihn geliefert werden? Wie stellt der Nachrichtendienst die systematische Bearbeitung einer solchen Vielzahl von Fällen sicher? Man muss sich nur einmal vorstellen, welche Lesezeit zur Beurteilung nötig ist.
Interview: Fabian Fellmann