Eine Woche nach der Streifkollision zweier Züge im Bahnhof Rafz ist klar: Der Lokführer der S-Bahn in Richtung Schaffhausen überfuhr ein Rotlicht. Die SBB hat Vorsichtsmassnahmen ergriffen.
«In beiden Unfallzügen waren je ein Lokführer und ein Anwärter im Führerstand», sagte SBB-Zugführungsleiter Mani Haller am Freitag vor den Medien in Bern. Nicht der Auszubildende, sondern der erfahrene Lokführer der S-Bahn habe das Rotlicht missachtet. Weshalb er dies getan habe, sei unklar und Gegenstand der laufenden Untersuchungen.
Laut Haller gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl Personen im Führerstand und der Unfallhäufigkeit. Aktuell seien im Personenverkehr 2500 Lokführer und 130 Anwärter im Einsatz. «Auf jedem zehnten Zug ist die Führerkabine doppelt besetzt.» Dass dies beim Unfall in Rafz in beiden Zügen der Fall war, sei Zufall.
Im Interregio sei der Lehrling am Steuer gewesen, sagte Haller. Ihm kommt gemäss ersten Erkenntnissen der SBB keine Schuld am Unfall zu. Dieser Lokführer durchfuhr um 06.41 Uhr vorschriftsgemäss und mit Signalerlaubnis mit Tempo 110 von Zürich her den Bahnhof Rafz und kollidierte Sekunden später seitlich mit der still stehenden S-Bahn.
Die Lok und fünf Wagen der Interregio-Komposition entgleisten beim Unfall. Der 49-jährige Lokführer des Interregios, der den Auszubildenden begleitete, wurde schwer verletzt. «Der Mann liegt nach einer Operation ansprechbar auf der Intensivstation und schwebt nicht in Lebensgefahr», sagte SBB-Chef Andreas Meyer sichtlich erleichtert.
Der Lokführeranwärter, der den Interregio steuerte, kann das Spital voraussichtlich in den nächsten Tagen verlassen. «Ihm geht es gut», sagte Haller. So gut, dass er in einem Monat die Lokführerprüfung ablegen wolle.
Auch fünf Passagiere waren bei der Kollision leicht verletzt worden. Ursprünglich war von vier verletzten Reisenden die Rede gewesen. «Am (heutigen) Freitagmorgen meldete sich eine Frau mit einem Unterschenkelbruch, der ebenfalls auf den Unfall zurückzuführen ist», sagte Meyer.
Der Sachschaden an den beiden Zügen beträgt nach Angaben der SBB gemäss ersten Schätzungen «mehrere Millionen Franken». Meyer sagte, er sei froh, dass nicht mehr passiert sei. «Das Ganze ist einigermassen im Rahmen abgelaufen.»
Trotzdem hat die SBB als Konsequenz aus dem Unglück erste Vorsichtsmassnahmen ergriffen: Züge, die gewendet haben, dürfen ab Montag bis auf weiteres in der ganzen Schweiz im Regional-, Fern- und Güterverkehr bis zum ersten Signal höchstens 40 Stundenkilometer erreichen. «Diese Empfehlung kommt aus Lokführerkreisen», sagte SBB-Infrastrukturchef Philippe Gauderon.
Damit steige die Wahrscheinlichkeit, «dass bei Situationen wie in Rafz der Zug noch vor dem Gefahrenpunkt gestoppt werden kann». Die Untersuchungen der SBB kommen zum Schluss, dass das Unglück vor Wochenfrist mit Tempo 40 hätte verhindert werden können.
Als nach dem missachteten Rotlicht die Zwangsbremsung bei der S-Bahn ausgelöst wurde, war der Zug bereits mit 59 Stundenkilometern unterwegs und kam erst knapp 100 Meter nach dem Signal zum Stillstand.
Der Bahnhof Rafz verfüge über moderne Sicherungsanlagen, sagte SBB-Sicherheitschef Hans Vogt. Diese hätten auch einwandfrei funktioniert. Die Abfahrverhinderung sei jedoch auf durchfahrende Züge ausgerichtet - die S-Bahn aber hatte gewendet und sei deshalb von der Zugbeeinflussung nicht gebremst worden.
Zusätzliche Sicherungskomponenten seien nur vorgesehen, wenn im Wochendurchschnitt mindestens ein Zug pro Tag wende. Das sei in Rafz Richtung Schaffhausen jedoch nicht der Fall. «Solche Systeme sind aufwendig und teuer», sagte Vogt. Deshalb würden sie nicht flächendeckend installiert.
Gemäss SBB wird künftig das moderne ETCS-System Level 2 sicherstellen, dass irrtümliche Abfahrten nach dem Wenden technisch unmöglich sind. Die netzweite Einführung dieses Systems ist bis 2030 geplant.
Zudem soll ab April eine Warn-App eingeführt werden. «Alle Lokführer haben heute einen iPad im Führerstand», sagte Gauderon. Dieses soll künftig die Beschleunigung der Züge registrieren. Liegt keine Fahrberechtigung vor, wird der Lokführer akustisch und visuell gewarnt.
Der Interessenverband Pro Bahn fordert nach Bekanntwerden des Unfallhergangs in Rafz ZH flächendeckende Sicherungssysteme. Der Unfall sei zwar tragisch und auf menschliches Versagen zurückzuführen. Trotzdem hätte die Zugkollision mit modernster Technik verhindern werden können.
Die Interessenvertretung der Kunden des öffentlichen Verkehrs sei vom Unglück tief betroffen, hiess es in einem Communiqué vom Freitag. Das Sicherungssystem habe zwar funktioniert und den Zug stoppen wollen. «Trotzdem war es zu spät - einige wenige, aber wichtige Zentimeter haben gefehlt.»
Eisenbahnfahren sei in der Schweiz nach wie vor sehr sicher. Die gemachten Erfahrungen stimmten aber nachdenklich. Der Grundsatz, wonach vier Augen mehr als zwei sehen, habe in diesem Fall nicht gegolten.
Die ersten Erkenntnisse der SBB zeigen, dass zwei Lokführer im Führerstand der S-Bahn waren, welche die Kollision verursachte. «Das Signal wurde übersehen oder die Konzentration galt dem Signal, welches dem Schnellzug freie Fahrt anzeigte, der ausnahmsweise auf einem andern Gleis unterwegs war», folgerte Pro Bahn.
Auch wenn menschliches Versagen zum Unfall geführt hat, fordert Pro Bahn, «dass moderne Sicherungssysteme überall zu installieren sind». Gerade das Beispiel des Zwischenfalls in Rafz zeige auf, dass eine kleine Lücke die Ursache gewesen sei und gravierende Folgen ausgelöst habe.
Die Vorsichtsmassnahme der SBB, die Ausfahrgeschwindigkeit von Zügen nach einem Richtungswechsel zu reduzieren, sei löblich. Dennoch bestehe auch hier die Möglichkeit, dass dieses Element übersehen werden könne.
Die Aussage der SBB, zusätzliche Sicherungskomponenten bei Richtungswechseln von Zügen in einem Bahnhof aus verschiedenen Gründen nur dann einzubauen, wenn dies pro Tag mindestens einmal geschehe, sei nicht verständlich.
Noch keine Ergebnisse haben am Freitag die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) und die Zürcher Staatsanwaltschaft präsentieren können. Deren Untersuchungen dauern noch an. Mit den Schlussberichten ist erst in einigen Monaten zu rechnen.
Bis dahin ist auch unklar, ob allfällige strafrechtliche Verfahren eingeleitet werden. Vor drei Wochen wurde bekannt, dass der Lokführer, der im Juli 2013 in Granges-Marnand VD ein Haltesignal missachtet und damit eine tödliche Zugkollision verursacht hatte, sich vor einem Gericht wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten muss.
sda