Die Bevölkerungsschicht mit mittleren Einkommen wird grösser. Eine aktuelle Studie widerlegt damit bisherige Annahmen. Dank guter Ausbildung vermochte die «Arbeiterklasse» mit den gestiegenen Anforderungen des Marktes Schritt zu halten.
Daniel Zulauf
«Die Angst vor der Arbeitslosigkeit ist symptomatisch für die bröckelnde Mittelschicht», kommentierte der Waadtländer SP-Nationalrat Jean Christophe Schwaab im vergangenen Jahr das Sorgenbarometer der Credit Suisse. Seit 40 Jahren stellt die Arbeitslosigkeit eine der drei Hauptsorgen der Schweizer Bevölkerung dar. Das hat sich auch heuer nicht geändert, wie das Ergebnis der neuesten Umfrage soeben bestätigt hat. Doch ist diese viel zitierte Erosion der Mittelschicht überhaupt belegt?
Nein, sagt die Statistik für die Schweiz. Die These lasse sich für unser Land nicht bestätigen, schreiben die Soziologen Daniel Oesch (Universität Lausanne) und Emily Murphy (Universität Oxford) in einer Studie, die dieser Tage im Rahmen der wissenschaftlichen Publikationsreihe «Social Change in Switzerland» veröffentlicht wurde. Die beiden Wissenschafter belegen mit Hilfe von Daten aus Volkszählungen und Arbeitskrafterhebungen, dass die Beschäftigung in der Schweiz seit 1970 in jedem Jahrzehnt in den gut bezahlten Berufen am stärksten zugenommen hat und in den niedrig entlöhnten Berufen (mit Ausnahme der 1980er-Jahre) am deutlichsten rückläufig war. Entgegen der verbreiteten Meinung ist der Mittelstand in der Schweiz also deutlich gewachsen, während die Ränge der Arbeiterklasse im Lauf der zurückliegenden 40 Jahre ausgedünnt wurden. (Unter dem Begriff Arbeiterklasse versteht man nach moderner Definition nebst Industriearbeitern auch Dienstleistungsangestellte wie zum Beispiel Bürohilfskräfte.)
Diese Erkenntnis widerspricht der sogenannten Polarisierungsthese, die in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren im Zug der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen ihren Aufschwung genommen hat. Die These besagt vereinfacht, dass Stellen im mittleren Qualifikationsbereich zunehmend ausradiert werden, weil sie in vielen Fällen aus automatisierbaren Routinetätigkeiten bestünden. Gemeint sind Profile wie Buchhalter, Sachbearbeiter, Schreibkräfte oder Maschinisten.
Umgekehrt verlangt der technologische Wandel in der Produktion immer mehr hoch qualifizierte Arbeit. Diese wird typischerweise auch weit überdurchschnittlich gut entlöhnt, weil die zu Grunde liegenden Tätigkeiten eine hohe Produktivität, also einen hohen Ausstoss mit einem relativ geringen Arbeitseinsatz erlauben. Gleichzeitig nimmt nach der Polarisierungsthese aber auch die Nachfrage nach niedrig qualifizierten Arbeitskräften mit geringer Entlöhnung zu. Diese Nachfrage wird einerseits generiert durch Tätigkeiten, die maschinell kaum zu ersetzen sind – zum Beispiel Friseure, Maler oder Personal in der Kinderbetreuung. Andererseits wird davon ausgegangen, dass jede neu geschaffene hoch bezahlte Stelle auch die Nachfrage nach Niedriglohnjobs beispielsweise im Reinigungsdienst oder bei anderen persönlichen Dienstleistungen schafft.
Um die Polarisierungsthese zu überprüfen, unterteilen Oesch und Murphy den Arbeitsmarkt in fünf gleich grosse Einkommensgruppen, und die Auswertung der Daten zeigt: Bei den 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung mit den höchsten Einkommen hat die Beschäftigung mit Abstand am stärksten zugenommen. Das Wachstum wird mit jeder tieferen Lohngruppe etwas schwächer, aber Abnahme der Arbeitsstellen gibt es erst in der niedrigsten Lohngruppe. Die Entwicklung lässt sich seit 1970 beobachten, aber besonders ausgeprägt war sie in den vergangenen zwanzig Jahren. Das Erstaunliche daran ist, dass die Arbeitslosenquote konstant geblieben ist, obwohl die Anzahl Arbeitsplätze für einen Fünftel der Erwerbsbevölkerung (die Niedrigstlohnverdiener) klar abgenommen hat. Die Erklärung für das Phänomen heisst Bildung. Das Bildungsniveau der Erwerbsbevölkerung ist mehr oder weniger parallel zum technologischen Wandel gestiegen. Und ab dem Jahr 2000 tragen erstmals auch die ausländischen Arbeitnehmenden substanziell zum Beschäftigungswachstum in den gut bezahlten Berufen bei. Die Personenfreizügigkeit, welche das Volk im Jahr 2000 mit der Zustimmung zu den bilateralen Verträgen ermöglicht hatte und die ab dem Jahr 2002 Realität wurde, hat das Wachstum der Mittelklasse in der Schweiz also eher befeuert als behindert.
Zwischen 1995 und 2015 hat sich der Anteil von hoch qualifizierten Arbeitskräften an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen um 15,6 Prozent erhöht. Das Wachstum ist doppelt so hoch wie in den OECD-Ländern, und dementsprechend hoch ist auch der Spezialisierungsgrad der Schweizer Arbeitnehmenden: 45,5 Pozent arbeiten in sogenannt wissensintensiven Tätigkeiten, verglichen mit 36,1 Prozent im Durchschnitt der EU-Länder. Die Gründe für diese Entwicklungen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sind vielfältig. Der starke Franken mag ein Argument dafür sein. In der Exportwirtschaft sind grosse Stellenabbaurunden, wie sie in der vergangen Woche GE im Schweizer Turbinenbau angekündigt hat, selten geworden. Die Industrie hat sich mit den Verhältnissen arrangiert und Tätigkeiten, die hierzulande nicht mehr rentabel betrieben werden können, ausgelagert. Ein anderer Grund ist der Umstand, dass der vergleichsweise wenig produktive Staatssektor in den vergangen Jahren überproportional viele gut qualifizierte Erwerbspersonen an sich gezogen hat. In der Tat ist der Beschäftigungsanteil des Staates und der staatsnahen Branchen im Lauf der vergangen 20 Jahre von 21 Prozent auf 26 Prozent gestiegen.
So oder so scheint es, dass der Arbeitsmarkt als Folge der Aufwertung der Bildungsstruktur an Widerstandskraft gewonnen hat. Drei Jahre nach dem letzten Frankenschock ist die Arbeitslosenquote zurück auf dem alten Stand – trotz mehrerer Abbaurunden à la GE. Eine Garantie für die Zukunft sind die gegenwärtigen Erfolge aber nicht. Nebst einer Fortsetzung der Bildungsinitiative gelte es auch die Berufsbildung zu stärken und mit Hilfe kollektivvertraglicher Mindestlöhne Anreize zu schaffen, dass die Unternehmen in die Produktivität ihrer Angestellten investieren, statt auf einen stagnierenden Niedriglohnsektor zu setzen, empfehlen Oesch und Murphy.
Doch genau das könnte schwierig werden, wenn im Zuge der Digitalisierung neue Branchen entstehen, für die es noch keine geeignete gewerkschaftliche Vertretung gibt. Ein Beispiel sind die Mühen der deutschen Gewerkschaft Ver.di, die Lagermitarbeiter des Online-Händlers Amazon zu organisieren. Auch nach fünf Jahren ist Ver.di noch nicht stark genug, das Unternehmen an den Verhandlungstisch für einen Gesamtarbeitsvertrag zwingen zu können. Kurzfristig mag das für die Gewinne von Amazon förderlich sein. Längerfristig ist eine solche Entwicklung aber gefährlich für die ganze Volkswirtschaft, weil sie die Polarisierung des Stellenmarktes vorantreibt.