Der künftige Strommix in der Schweiz wird grössere Anteile von Sonnen- und Windenergie haben. Da die Mengen schwanken, muss der Verbrauch stärker an die verfügbare Strommenge angepasst werden. Daher ist es wichtig, den Verbrauch vorhersagen zu können.
Andreas Lorenz-Meyer
Geht es um das Stromnetz von morgen, ist oft von einem Smart Grid die Rede. Darunter versteht man ein Stromnetz, das aus vernetzten und miteinander kommunizierenden Teilnehmern besteht. Das sind Energieerzeuger, Energiespeicher, Netzmanagement und Verbraucher. Doch wie sieht das intelligente Stromnetz zum Beispiel in 20 Jahren aus?
Gwendolin Wilke vom Departement Informatik der Hochschule Luzern stellt es sich so vor: Alle Gebäude sind mit Smart Metern ausgerüstet. Dadurch ist der effektive Stromverbrauch aller Kunden bekannt. Viele Gebäude sind ausserdem mit Solarzellen ausgestattet, es gibt zentrale und dezentrale Windkraftwerke, dazu andere erneuerbare Energieerzeuger wie Biogasanlagen.
Der Anteil an dezentraler Energieversorgung hat insgesamt stark zugenommen. Viele Personen besitzen Stromspeicher wie Batterien oder Elektroautos sowie schaltbare Verbrauchsgeräte, etwa Waschmaschinen. Diese sind mit Steuersystemen ausgerüstet, die es ermöglichen, die Geräte «netz- und preisoptimal» ein- oder auszuschalten, sie also dann zu benutzen, wenn die Einspeisung durch erneuerbare Energiequellen hoch und der Strompreis entsprechend niedrig ist. «Dabei ist die Datensicherheit, Privatsphäre und Entscheidungshoheit über die eigenen Geräte für alle Teilnehmer zu jedem Zeitpunkt gewährleistet», betont Wilke.
Ob ein Smart Grid in dieser Form bereits in 20 Jahren Realität sein wird, ist noch ungewiss, aber Wilke arbeitet im Rahmen des Projekts Power Alliance daran, dem Ganzen ein Stück näher zu kommen. Die Mathematikerin und ihr Team von Datenforschern testen mathematische Modelle, mit denen sich der Energieverbrauch der Stromkonsumenten zuverlässig voraussagen lässt, denn solche Voraussagen sind für die Umsetzung eines Smart Grid entscheidend.
Die mathematische Modellierung basiert auf realen, anonymisierten Daten des Baselbieter Energieversorgers Genossenschaft Elektra Birseck und der süddeutschen Stadtwerke Crailsheim. Die Daten sind sogenannte Zeitreihen, die den Stromverbrauch von Industriekunden über ein gesamtes Jahr in 15-Minuten-Abständen enthält. Man verwendet etwa einen Monat einer Zeitreihe, um daraus den Stromverbrauch für den nächsten Tag abzuleiten. Dabei werden verschiedene Modelle getestet. Zum Beispiel nimmt man 30 Tage, die in der Vergangenheit liegen, um den Verbrauch des 31. Tages zu prognostizieren. Wilke: «In der Trainingsphase der Algorithmen wählen wir den 31. Tag so, dass er ebenfalls in der Vergangenheit liegt. Das bedeutet, dass wir den echten Verbrauch des vorherzusagenden Tages kennen und diesen mit der errechneten Prognose vergleichen können.» So lässt sich überprüfen, welches Modell an diesem Tag den echten Verbrauch am besten nachgebildet hat. Dieser Vorgang wird für mehrere Tage wiederholt und anschliessend das beste Modell pro Verbraucher ausgewählt.
Sehr kurzfristige Vorhersagen innerhalb eines Tages (Intraday-Prognose) sind für den Projektansatz nicht nötig. Es geht um Prognosen am Vortag für den nächsten Tag. Energiekunden sollen am freien Energiemarkt teilnehmen und ihre Kosten senken können, so das Ziel. Gleichzeitig will man die Auslastung des Stromnetzes durch intelligente Vorhersage und Steuerung optimieren, so dass sich die gesamtgesellschaftlichen Kosten für einen Ausbau des Stromnetzes minimieren. Einen Anreiz dafür sollen attraktive neue Geschäftsmodelle für Energieversorger und Energiekunden schaffen. «Die dafür benötigten Prognosen könnten theoretisch bereits jetzt bei jedem Industriekunden, der einen Smart Meter hat, durchgeführt werden», erklärt Wilke. Das sei jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie auch für eine bestimmte Anwendung benötigt werden, für load shaping etwa. Ein Begriff aus dem Bereich Lastmanagement, der einen optimalen Zeitplan für den Verbrauch bezeichnet, um Netzstabilität und optimale Preise zu erreichen. Bis dahin wird es laut Wilke aber wohl noch ein paar Jahre dauern.
In einem künftigen Smart Grid kommt es aber nicht nur auf die Vorhersagen an. Der Energieverbrauch soll auch so gesteuert werden, dass er nach Möglichkeit dann anfällt, wenn überschüssiger Strom aus erneuerbaren Energien im Netz ist. Sogenannte «nicht kritische Prozesse» können dabei verschoben werden. Nicht kritisch wäre zum Beispiel das Laden einer Batterie, welche nur als Puffer eingesetzt wird. Kritisch wären hingegen die Produktionsprozesse in einer Fabrik, welche natürlich nicht gestoppt werden dürfen. «Die Verschiebungen der nicht kritischen Prozesse sollen die Überlastung von Leitungen verhindern und den Bedarf an sehr teuren Netzausbauten minimieren», erklärt Wilke.
Die Planung für den Zeitpunkt des Strombezugs dieser Prozesse ist bereits am Vortag abgeschlossen. Dann steht fest, wer wann Strom beziehen darf. «Dabei kann jeder Kunde angeben, was seine nicht kritischen Prozesse sind und wann er für diese Prozesse gerne Strom beziehen möchte. Dafür wird er sicher den Zeitpunkt wählen, an dem die Stromkosten am niedrigsten sind.» Anschliessend prüft der Netzbetreiber, ob zu diesem Zeitpunkt tatsächlich genügend Netzkapazität verfügbar ist. Falls ja, kann der Kunde am nächsten Tag zu diesem Zeitpunkt den gewünschten Strom beziehen. Falls nicht, wird sein Wunsch abgelehnt und er darf die als Puffer dienende Batterie nicht zu diesem Zeitpunkt laden. Stattdessen kann er einen anderen Zeitpunkt wählen, statt 14 Uhr zum Beispiel 16 Uhr. So lädt er seine Batterie trotzdem, wenn auch nicht ganz «preisoptimal». Bei Stromausfall in einem Teilnetz können nicht kritische Prozesse auch abgeschaltet werden, um eine Netzüberlast in einem anderen Teilnetz zu verhindern. Als Gegenleistung für seine «netzdienliche Flexibilität» erhält der Kunde reduzierte Netznutzungspreise für seine nicht kritischen Prozesse. Das Ganze wird automatisiert durchgeführt, erlaubt jedem Kunden aber immer auch manuelles Eingreifen, wenn er dies wünscht.
Zurück zu den Modellen, die den Verbrauch vorhersagen. «Sie werden nie 100 Prozent genau sein», sagt Wilke, «da beim Stromverbrauch immer wieder unvorhersehbare Schwankungen auftreten.» Daher müssen die Prognosen mit Sorgfalt eingesetzt und gegebenenfalls Sicherheitsmargen hinzugerechnet werden. Alles zusammen, Vorhersage und intelligente Steuerung von Energieverbrauch und Speicherung, garantiert die Versorgungssicherheit. Und ermöglicht einen ressourcenschonenden Umgang mit Energie sowie Einsparungen beim Netzausbau – und das laut Wilke ohne Komforteinbussen für Endverbraucher.