FORSCHUNG: Luzerner zeichnen religiöse Landkarte neu

Über die Religionszugehörigkeit der Europäer gibt es erstaunlich wenig verlässliche Daten. Ein Forschungsprojekt der Universität Luzern will dies nun ändern.

Robert Knobel
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Orthodoxe Gläubige versammeln sich im bulgarischen Blagoevrad, 90 Kilometer südwestlich von Sofia, vor einem Kreuz aus Kerzen. (Bild: EPA (10. Februar 2014))

Orthodoxe Gläubige versammeln sich im bulgarischen Blagoevrad, 90 Kilometer südwestlich von Sofia, vor einem Kreuz aus Kerzen. (Bild: EPA (10. Februar 2014))

Robert Knobel

Religion und Säkularisierung sind seit Jahren kontrovers diskutierte Themen. Doch wie steht es wirklich um die Religionszugehörigkeit der Europäer? Erstaunlicherweise gab es bisher kaum verlässliche Daten dazu. Das hat sich nun dank eines Forschungsprojekts der Universität Luzern geändert. In mehrjähriger Arbeit haben Wissenschafter Daten aus verschiedenen Quellen zusammengetragen: Mitgliederzahlen aus Spezialerhebungen, Resultate von Volkszählungen und Umfragen sowie Ergebnisse aus früheren Studien. Mithilfe eines Algorithmus, den die Luzerner Forscher zusammen mit der Chamer IT-Firma Ongoing eigens dafür entwickelt haben, wurden die Daten zusammengeführt. Das Resultat bietet nun erstmals einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Religionszugehörigkeit in Europa der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Was sofort ins Auge sticht: Die fortschreitende Säkularisierung ist nicht bloss ein Schlagwort, sondern Realität. Waren vor 20 Jahren noch die meisten Länder entweder katholisch, protestantisch oder orthodox dominiert, so zeigt sich seit 2006 ein anderes Bild: In ­grossen Ländern wie Frankreich und Deutschland bilden inzwischen die Nichtreligiösen die grösste Bevölkerungsgruppe. In der Schweiz haben zwar noch immer die Katholiken mit 38 Prozent den grössten Anteil. Doch die religiös Ungebundenen holen auch hier rasant auf und machen heute über 20 Prozent aus. «Allein zwischen 2000 und 2010 hat sich ihr Anteil um mehr als 10 Prozentpunkte erhöht. Das ist im europäischen Vergleich ein sehr starker Anstieg und sollte den Landeskirchen zu denken geben», sagt Antonius Lied­hegener, Professor für Politik und Religion am Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität ­Luzern. Liedhegener ist Leiter des vom Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts.

Katholische Kirche hält ihre Stellung

Trotz aller Tendenzen zur Säkularisierung hat die katholische Kirche noch immer eine wichtige Stellung – vor allem in Süd- und Osteuropa, aber auch in der Schweiz und Österreich. Die Protestanten hingegen spielen einzig in Skandinavien eine dominierende Rolle. Das erstaunt – sind doch gerade in der Schweiz die bevölkerungsreichen Kantone alle protestantisch geprägt. Gründe dafür gibt es mehrere. Antonius Liedhegener: «In Ländern wie Polen oder Italien gibt es noch immer eine starke Verbindung zwischen der nationalen Identität und dem katholischen Glauben. Auf protestantischer Ebene gibt es solche Beispiele kaum noch.» Das habe auch damit zu tun, dass die protestantischen Regionen früh industrialisiert und urbanisiert wurden – was wiederum die frühe «Entkirchlichung» förderte, wie Liedhegener es ausdrückt. Zudem profitiert die katho­lische Kirche in Westeuropa von der Einwanderung katholischer Migranten.

Interessant ist auch die Entwicklung in Osteuropa. Im Westen ist man versucht, die ehemals kommunistischen Länder als homogenen Block zu verstehen. In reli­giöser Hinsicht ist dies falsch: Während praktisch jeder Pole Katholik ist, gehören zwei Drittel der Tschechen keiner religiö­sen Gruppierung an. Das habe historische Gründe, sagt Antonius Liedhegener. Während die katholische Identität Polens während Jahrhunderten gefestigt werden konnte, wurde Tschechien von Glaubenskriegen zerrüttet. Der Kom­munismus hatte so leichtes Spiel, die schwache ­religiöse Bindung der Tschechen zu zerstören.

Überraschende Erkenntnis zu den Muslimen

Und die Muslime? Ihr Anteil beträgt in Westeuropa rund 5 Prozent. Erstaunlich: Der muslimische Anteil in Frankreich ist nicht höher als derjenige in der Schweiz. Und dies, obwohl das Thema Islam in Frankreich omnipräsent scheint. Um diese Zahlen zu interpretieren, müssen wir einige Jahre zurückgehen. So gaben in der Untersuchungsperiode 1996–2005 nur gerade 0,5 Prozent der Franzosen an, Muslime zu sein – zehnmal ­weniger als heute. Zwar sei dieser tiefe Wert mit Vorsicht zu geniessen, sagt ­Antonius Liedhegener. Dennoch könnte der sprunghafte Anstieg ein Indiz für die These sein, wonach sich Einwandererkinder aus islamischen Ländern zunehmend auf ihre religiösen Wurzeln besinnen. Nicht die blosse Präsenz dieser ­Migranten, sondern deren wachsende Religiosität ist für manche der Grund für die viel zitierte Angst vor einer «Islamisierung» Europas. Was die Schweiz betrifft, verläuft die Entwicklung unspektakulär. Der Anteil der bekennenden Muslime ist innert zehn Jahren nur um 0,7 Prozentpunkte gestiegen. Antonius Liedhegener geht davon aus, dass der Anstieg in diesem Rahmen weitergeht. «Jedenfalls muss niemand Angst haben, demnächst unter dem Halbmond leben zu müssen», sagt er in Anspielung auf politische Polemiken.

Die Frage nach der religiösen Orientierung ist gar nicht immer so einfach zu beantworten – dies ist eine weitere Erkenntnis der Luzerner Forschungsarbeit. «Es ist ein grosser Unterschied, ob wir fragen, welcher Religion jemand angehört – oder welcher Religion er oder sie sich zugehörig fühlt», sagt Liedhegener. Die hier präsentierten Resultate orientieren sich vor allem an der ersten Frage nach der «offiziellen» Religion. Hätte man die Frage anders gestellt, so wären in Ländern wie Frankreich ganz andere Resultate herausgekommen.

Nicht so in der Schweiz: Hier deckt sich die Religion auf dem Papier mit der «gefühlten» Religion in höherem Masse. Eine naheliegende Erklärung dafür sind die Kirchensteuern: Kaum jemand zahlt freiwillig Steuern für eine Institution, mit der er nicht irgendwie in Verbindung steht. Das historische Verhältnis von Staat und Landeskirchen präge denn auch das Bewusstsein um religiöse Identitäten, sagt Liedhegener.

Bild: Quelle: Universität Luzern / Grafik: Janina Noser

Bild: Quelle: Universität Luzern / Grafik: Janina Noser