Erdbeben
«Ich hatte keine Chance, sie via Whatsapp zu erreichen»: Ein junger Syrer aus Arbon bangte um seine Oma im Erdbebengebiet

Den ganzen Montag versuchte Ibrahim, seine Grossmutter in Homs zu kontaktieren. Aber selbst in diesen schweren Stunden konnte sich sein Basketballverein auf den Teenager verlassen.

Manuel Nagel
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Ibrahim Hossam am Donnerstagabend im Training in der Stacherholzhalle, inmitten seiner Basketballkollegen vom U18-Team der Pirates.

Ibrahim Hossam am Donnerstagabend im Training in der Stacherholzhalle, inmitten seiner Basketballkollegen vom U18-Team der Pirates.

Bild: Manuel Nagel

«Auf Ibrahim kann man sich immer verlassen», sagt Carsten Lex. So auch am letzten Montag, der wahrlich kein einfacher Tag war für den bald 17-jährigen Syrer. Ibrahim wachte mitten in der Nacht mit einem unguten Gefühl auf, blickte auf sein Handy und erfuhr vom schweren Erdbeben, das auch in seiner Heimatstadt Homs zu spüren war, wo Ibrahims Grossmutter und viele Verwandte leben. Und doch stand er am Abend pünktlich um 18.30 Uhr in der Halle, um die U14-Junioren der Oberthurgau Pirates zu trainieren.

Lex, Präsident des Basketballvereins, findet nur lobende Worte für den jungen Mann, der vor dreieinhalb Jahren hierher nach Arbon gekommen ist. Seine Familie war in einem Flüchtlingslager im Libanon und erhielt von der Schweiz ein humanitäres Visum. Via Genf landete die fünfköpfige Familie schliesslich im Oberthurgau.

Doch die vier Schwestern von Ibrahims Vater sowie deren Mutter blieben in der drittgrössten Stadt Syriens. Wenn immer es geht, nimmt Ibrahim mit seiner geliebten Oma Kontakt auf, die für ihn wie eine zweite Mutter ist, weil er in seinen ersten sechs Jahren sehr viel Zeit mit ihr verbrachte. Sein Vater und seine Mutter seien beide berufstätig gewesen, und so kümmerte sich die Grossmutter um Ibrahim und seine zwei Geschwister.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der Teenager sich unmittelbar nach dem Erdbeben bei seiner Grossmutter erkundigen wollte, wie es ihr gehe. Doch er sagt:

«Ich hatte keine Chance, sie via Whatsapp zu erreichen.»

Auch sonst sei es immer recht schwierig zu kommunizieren, denn der Zugang zu drahtlosem Internet sei eher die Ausnahme als die Regel, und so blieb er den ganzen Montag über im Ungewissen, bis er am Abend von der Schule zurückkehrte. Erst dann hatte er Gewissheit, dass es den engsten Verwandten gut geht.

Die ganze Grossfamilie lebt nun in einer Wohnung

Ibrahim erzählt, dass das Haus, in dem seine Grossmutter lebt, heftig gewankt hat. Zusammen mit zwei ihrer Töchter, deren Männer sowie zwei Kindern lebt sie in der sechsten Etage eines siebenstöckigen Hauses. Alle seien sie dann sofort mit nur den Kleidern auf dem Leib nach draussen gerannt. Seine zwei Tanten hätten sich um ihre Mutter gekümmert, die bei Minustemperaturen trotz mehrerer Decken ziemlich gefroren habe. Nach einiger Zeit gelang es jedoch, einen Wagen aufzutreiben, mit dem sie zu den anderen zwei Schwestern fahren konnten. Diese würden in einem anderen Stadtteil von Homs leben, «etwa eine Fahrstunde vom Haus meiner Grossmutter entfernt», sagt Ibrahim, «in einem Haus mit nur zwei Etagen, deshalb ist es dort sicherer».

Dort ist nun die ganze Familie von Ibrahim untergebracht, die Kinder in einem Zimmer, die Frauen in einem zweiten und die Männer in einem dritten. Zwar habe seine Grossmutter nochmals zurück in ihre Wohnung gewollt, um Sachen zu holen, doch sein Vater habe es ihr nicht erlaubt, sagt Ibrahim. Zu gross sei die Angst, dass das grosse Gebäude zusammenbreche.

Es sei hart, in so einer Situation nicht bei seiner Familie sein zu können, sagt der Teenager, der nicht weiss, ob er seine Oma je wiedersehen wird. Wie seine Mutter auch, wolle er Krankenpfleger werden – im Wissen, dass die Zukunftsaussichten in diesem Beruf gut sind. Zurzeit besucht er das zehnte Schuljahr in Frauenfeld und lernt fleissig. Und doch will er auch seinen Basketballverein nicht vernachlässigen, dank dem er sich in Arbon integrieren und noch besser Deutsch lernen gekonnt habe.

«Ibrahim ist ein positiver junger Mann und ein Gewinn für den Verein.»

Dies sagt Carsten Lex, Präsident der Oberthurgau Pirates – und nicht nur er im Verein hofft, dass Ibrahim seinen Kopf bald wieder frei von allen Sorgen haben kann.