Wer lange im Ausland lebt, hat ein besonderes Verhältnis zur Heimat. Unsere Kolumnistin Carla Maurer beschreibt, wie sich ihr Stolz auf die Schweiz im Alltag bemerkbar macht
Ich bin Patriotin. So, jetzt ist es raus. In links-liberalen Kreisen, zu denen ich mich zähle, ist das keine besonders populäre Aussage. Schweizer Fahnen sind für Spiessbürger und die 1.-August-Feier reserviert. Klar, auch ich lasse mich oft zu selbstironischen Schoggi-Heidi-Witzen hinreissen. Das gehört schliesslich zum gutschweizerischen Verhaltensrepertoire. Trotzdem hege ich tief in mir einen ausgeprägten Stolz, eine der nur neun Millionen Bürgerinnen der blitzsauberen Alpennation zu sein.
Zum Beispiel am Zoll. Kürzlich war ich mit meinem neugeborenen Kind auf Heimatbesuch. Mein Schweizer Pass war gerade abgelaufen, mein Sohn noch nicht offiziell als Schweizer Bürger registriert. Also sind wir mit den britischen Pässen eingereist. Brav habe ich mich in die Schlange «All Passports» gestellt. Der Zollbeamte: «Are you here on holiday?» Ich: «I bi uf Heimatbsuech. I wohne in England.» Der Zollbeamte, überrascht: «Jo, sind Sie Schwizerin? Hend Sie kein Schwizer Pass?» Ich erklärte ihm die Situation, worauf er meinte, dass ich noch ein Jahr über das Ablaufdatum hinaus mit einem Schweizer Pass einreisen könne. Der kurze Austausch erfüllte mich mit einem patriotischen Stolz der Zugehörigkeit. Im letzten Augenblick konnte ich die Träne der Rührung hinunterschlucken. Schlagartig verriet mich meine Sprache als «eine von uns».
Oder in der Londoner U-Bahn. Vor einigen Jahren ging ich einmal beim Leicester Square in den Untergrund. An der Billettbarriere kam mir von der anderen Seite ein Mann entgegen. Schlank, gross gewachsen, langes gewelltes Haar, braunes Tuch turbanartig um den Kopf gebunden. «Den kenne ich!», ging es mir durch den Kopf. Schon wollte ich begeistert grüssen, da fiel s’Zwänzgi: er kennt mich nicht. Das ist der Schweizer Promi Chris von Rohr. Ich ging wortlos an ihm vorbei, aber tief drinnen dachte ich mit Stolz: Ich gehöre im Fall auch zu euch.
Fünfzehn Jahre im Ausland haben unweigerlich Spuren hinterlassen. Ich will mir und allen meinen Kompatrioten beweisen, dass ich noch voll dazugehöre. Letztes Jahr stellten wir deshalb eifrig unseren damals dreijährigen Sohn zum ersten Mal auf die Ski. Meine Kinder sollen einmal genauso selbstverständlich wie ihre gleichaltrigen Gspänli die Pisten runterschwingen und auf keinen Fall mit Eddie the Eagle verglichen werden! Ein paar Tage später sass ich mit meinen alten Schulfreundinnen im Café. Es stellte sich heraus, dass ihre Kinder frühestens mit fünf Jahren auf den Ski standen. Auslandschweizer neigen gerne zur Überkompensation.
Kürzlich ist mir in St.Gallen aufgefallen, dass mich im Bus alle anstarren. Mir war sofort klar: Ich gehöre nicht mehr wirklich dazu. Ich bin eine Fremde. Meine Welt fiel ein bisschen zusammen. Diese Beobachtung schilderte ich einem alten Freund. «Ach, das geht allen so», meinte er nur. «Wir Schweizer sind ein kleines Alpenvolk. Es steckt uns in den Genen, dass wir meinen, überall irgendjemanden zu kennen, wie unsere Vorfahren in ihrem Tal, deshalb mustern wir ständig alle um uns herum.» Da fiel mir ein Stein vom Herzen. In mir steckt die Schweizerin offenbar noch ganz tief drin. Wie sonst hätte ich den Mann mit dem braunen Turban im Gemenge der Londoner U-Bahn als einen der «Meinen» erkannt!
Carla Maurer stammt aus St.Gallen und ist Pfarrerin in der Swiss Church in London. Weiter betreibt sie den Podcast «Pubs & Souls» auf reflab.ch. Maurer schreibt diese Kolumne immer montags im Turnus mit Toni Brunner, Walter Hugentobler und Ulrike Landfester.