Der Gerichtsprozess um den Vierfachmord von Rupperswil bietet einen Einblick in die Scheinwelt von Thomas N. – und in eine Justiz im Ausnahmezustand.
Mario Fuchs
Um 8 Uhr an diesem Dienstagmorgen hört man im Theoriesaal der Mobilen Polizei in Schafisheim AG nur das Klappern von Laptoptastaturen. Alles ist bereit für den Auftritt von Thomas N., 34, letzter Wohnsitz 5102 Rupperswil, Zustelladresse Justizvollzugsanstalt Pöschwies, 8105 Regensdorf. Normalerweise sitzt das Gericht im Saal, wenn Parteien und Beobachter hereingeführt werden.
Nicht bei Thomas N. Um 7 Uhr werden bereits die 65 Journalisten eingelassen. Ein Kantonspolizist kontrolliert den Presseausweis. Ein zweiter durchsucht Jacken und Taschen. Der Gang durch die Sicherheitsschleuse ist Pflicht. Daniel Aeschbach, Präsident des Bezirksgerichts Lenzburg, begrüsst Staatsanwältin Barbara Loppacher, die Opferfamilien, deren Anwälte und Thomas N.s Verteidigerin Renate Senn mit Handschlag: «Guete Morge, alles klar?»
Das Gericht nimmt Platz. Und tut etwas, was es sonst nie tut: Es wartet. Stille. Dann das Klicken sich öffnender Handschellen. Hinter dem Rahmen einer Seitentür tritt Thomas N. in den Saal hervor. Graues Baumwollhemd, oberster Knopf geöffnet, Button-down-Kragen. Dunkelblaue Jeans, hellbrauner Ledergurt, schwarze Lederhalbschuhe, geglänzt. Zeitgemässe Frisur, die Haare an den Seiten ganz kurz, am Oberkopf länger. Sauber getrimmter Dreitagebart. Seinen Blick hat N. auf den Boden gerichtet. Flüchtig sucht er den Augenkontakt mit seiner Pflichtverteidigerin. Er setzt sich hin, hält sich mit Zeigfinger und Daumen die Nasenwurzel.
Der Zeiger der Funkuhr an der Betonwand schnellt von 8.14 auf 8.15 Uhr. Gerichtspräsident Aeschbach schlägt mit einem schwarzen Richterhammer viermal auf den Resonanzblock. «Ich eröffne die Hauptverhandlung im vierfachen Tötungsdelikt Rupperswil.» Das Gericht der öffentlichen Meinung habe sein Urteil grösstenteils bereits gefällt. «Ich möchte Sie aber einladen, mit dem Bezirksgericht Lenzburg den Weg zum Urteil zu beschreiten, der geprägt sein soll von Sachlichkeit und Unabhängigkeit.» An der Wand hängt die Verhandlungsordnung, gerahmt, in Werbeplakatgrösse. Vier Tage hat das Gericht für Thomas N. reserviert. Und Aeschbach lässt keine Zweifel, dass er diesen Zeitplan einhalten will. Die Parteien fragt er nicht nur nach ihren Anträgen, sondern auch nach der ungefähren Länge ihrer Plädoyers. N. blickt auf den Tisch vor sich, hält sich jetzt mit der rechten Hand an der linken Schulter, als würde er sich selber umarmen.
«Herr N., Sie wissen, weshalb Sie hier sind?» – «Ja.» Er schaut ein erstes Mal auf. «Sie wissen, was Ihnen vorgeworfen wird?» – «Ja.» Während der Gutachter Elmar Habermeyer dem Gericht seine Befunde erklärt, sitzt N. regungslos im Stuhl. Hört, wie der Psychiater ihn als «kühl, arrogant und abweisend» beschreibt, als «recht typischen erfolglosen Narzissten» bezeichnet. Als die Staatsanwältin Fragen stellt, nimmt er einen Kugelschreiber, notiert etwas auf den Block der Verteidigerin, sie antwortet handschriftlich. Habermeyer sagt: «Wenn jemand 2014 während der WM im Garten Fussball guckt und vorher alle Nachbarn informiert, dass es eventuell laut werden könnte, und anderthalb Jahre später eine solche Tat begeht, dann ist diese Differenz schon sehr eindrücklich.» N. nimmt einen Schluck Mineral aus dem Plastikbecher.
Nach gut zwei Stunden wird Elmar Habermeyer entlassen, sein Berufskollege Josef Sachs nimmt Platz. Er attestiert Thomas N. «eine Hartnäckigkeit, wie man sie selten sieht». Er sei ein absoluter Perfektionist. Im Notizbüchlein, in dem N. Informationen über mögliche künftige Opfer pädophiler Übergriffe sammelte, habe der Zeilenabstand immer perfekt gestimmt.
«Er stellte an sich derart hohe Ansprüche, dass er sie gar nicht einlösen konnte. Deshalb begann er gar nie, sie einzulösen, und zog sich in eine Scheinwelt zurück.» Ein Studium begann er fünfmal, ohne dass er je eines abgeschlossen hätte. Seine Mutter log er an, legte ihr ein gefälschtes Masterdiplom vor. Das erbeutete Geld hätte sein Versagen vertuschen sollen. Punkt 12 Uhr klopft Gerichtspräsident Daniel Aeschbach wieder mit dem Holzhammer. In der nahen Mensa des Strassenverkehrsamts stehen Opfer, Anwälte, Gutachter an für das Mittagsmenü. Josef Sachs, bekannt als gesellig und auskunftsfreudig, darf für einmal nichts sagen, sitzt alleine an einem Tisch, blickt in die Leere. Beim Kaffee stehen die Opfervertreter zusammen, hinter ihnen ein Bildschirm an der Wand, «20 Minuten» meldet: «Thomas N. ist süchtig nach Cybersex.»
Am Nachmittag wird N. befragt. Er gibt detailliert Auskunft. Antwortet etwa auf die Frage, warum er ein Messer als Tatwaffe benutzt habe: «Ich habe wahrscheinlich gedacht, das geht am einfachsten, am schnellsten, schmerzfreisten.» Er sei «wie vor zwei Türen gestanden. Die eine Türe war, zu gehen, die andere war die Tötung. Ich war überfordert. Ich wusste, du wolltest nie an diesen Punkt kommen. Ich wusste, Abbrechen geht nicht, Weitermachen auch nicht. Ich wäre am liebsten Stunden in diesem Haus gewesen, einfach um nichts entscheiden zu müssen.» Thomas N. spricht deutlich, verliert nie die Fassung. Doch das Unfassbare wird dadurch nicht wirklich fassbarer.