«E Gränni» war er nie, obwohl das Wort nun sogar im Titel seiner Biografie steht. Vielmehr war und ist Hanspeter Latour «e Gäbige». Meistens jedenfalls.
Vorspiel. Wir treffen uns im Hotel Seepark, direkt am Thunersee. Er mache für Interviews öfter hier ab. «Aber mit einem See kann man bei Luzernern wohl nicht brillieren, ihr habt ja selber einen», lacht Hanspeter Latour, «und jetzt regnet es auch noch hier – aber auch das kennt ihr ja.» Am Vorabend war Vernissage von Hanspeter Latours Biografie mit dem Titel «Das isch doch e Gränni». Beni Thurnheer war da. Peter Bichsel auch, zu dem Latour seit seinen Trainerjahren in Solothurn ein freundschaftliches Verhältnis pflegt. Ebenso zu Pedro Lenz.
Hanspeter Latour (66), in Thun geboren und verwurzelt, ist kein gewöhnlicher Fussballtrainer. Kontakte zu Leuten aus dem breiten Fuss(ball)volk sind ihm ebenso wichtig wie jene zu Schriftstellern und Show-Promis. Ein Gränni, also ein Jammeri, ist er nicht. Der Buchtitel ist ein legendärer Latour-Spruch vom November 2002. Er war damals Trainer von Thun. Für eine Reportage hatte ihm das Schweizer Fernsehen während 90 Minuten ein Mikrofon umgehängt, damit man mal hören konnte, was ein Trainer so alles von sich gibt. «Das isch doch e Gränni» brüllte Latour, als ein Spieler von Servette Genf sich nach der Attacke eines Thun-Verteidigers am Boden wälzte. Und weiter: «Das isch nid normau, Herr Meier, dä grännet jedes Mau.» Herr Meier war der Schiedsrichter. Latour wollte ihm klarmachen, dass der Servette-Spieler nur simulierte. Wenn man bei Google die Worte «Latour» und «Gränni» eingibt, findet man einen Ausschnitt jener Reportage mit der Szene, aber auch sonst berserkert Latour wild an der Seitenlinie rum. Irgendjemand hat einen Titel zum Youtube-Filmchen gesetzt: «Hanspeter Latour dreht durch». So, und nun wird angepfiffen.
Hanspeter Latour, sind Sie durchgedreht?
Hanspeter Latour: Nicht ganz, finde ich.Beim Durchdrehen verliert man die Kontrolle, und wenn ich die Kontrolle verloren hätte, hätte ich nicht «Herr Meier» gerufen, sondern im besseren Fall «Schiri», im schlechteren Fall etwas nicht Druckreifes. Durchgedreht bin ich nicht, aber ich bin halt engagiert und leidenschaftlich.
Der «Gränni» ist geblieben.
Latour: Ja, wobei, ich gebe es heute zu: Es war ein klares Foul unseres Spielers, aber der andere liess sich immer so theatralisch fallen, und ich hatte Angst, dass Herr Meier unserem Spieler die rote Karte zeigt. Deshalb versuchte ich ihn ein wenig zu beeinflussen.
Dabei wirken Sie so grundehrlich, man denkt gar nicht ...
Latour: ... dass ich auch ein Gauner sein kann (lacht). Als Trainer muss man versuchen, für seine Mannschaft das Beste herauszuholen. Mit allen erlaubten Mitteln. Wenn mir jemand sagt, es gebe doch viel Wichtigeres als Fussball, stimme ich dem voll zu – aber das gilt nicht für die 90 Minuten, in denen das Spiel läuft. Da wird alles andere ausgeklinkt.
Und da darf man, was auch im Video zu sehen ist, einen Spieler der eigenen Mannschaft als «Löu» (Löli) bezeichnen und sagen, er sei nicht ganz gebacken?
Latour: Ich habe mich da schon etwas grenzwertig verhalten. Es ist ja auch um viel gegangen. Aber die Kontrolle habe ich nie verloren, in der ganzen Karriere nicht. Ich habe aber immer alles gegeben, bis in die letzte Ader. Ein «Gäbiger» war ich nie während des Spiels, aber was während eines Matchs herumgeschrien wird, kann man nicht auf die Goldwaage legen. Nach dem Schlusspfiff ist das abgehakt. Trotzdem muss man darauf achten, dass man niemanden verletzt.
Haben Sie das nie getan?
Latour: Doch. Vor fast vier Jahrzehnten, als ganz junger Trainer beim FC Dürrenast, habe ich es so weit kommen lassen, dass durch eine übertriebene disziplinarische Massnahme der Aschi, der wohl beste Spieler der Mannschaft, über Nacht seine Karriere beendet hat. Eigentlich ging es um eine Bagatelle, aber wir waren halt beide «Bärner Stieregrinde». Das hat mir im Nachhinein leid getan und mich jahrelang geplagt. Ich habe nie mehr mit Aschi gesprochen – bis gestern Abend. Er ist auch an die Vernissage gekommen, und wir haben angestossen miteinander. Das hat mich riesig gefreut.
Haben Sie auch andere Spieler auf dem Gewissen?
Latour: Meines Wissens nicht, aber ich bin mir bewusst, dass man als Trainer immer ein gewisses Frustrationspotenzial erzeugt. Ein Kader umfasst 20, 25 Mann. 18 kann man aufbieten, 11 können spielen und 3 Ersatzleute eingewechselt werden. Als Trainer hindert man zwangläufig Menschen daran, das zu tun, was sie am liebsten machen: Fussball spielen.
Ihre Haupttätigkeit sind heute Referate über Führung und Motivation, bei verschiedensten Firmen und Organisationen. Gibt es ein Führungsprinzip, das für alle Branchen gilt?
Latour: Ich betone immer: Das, was ich erzähle, hat nicht den Anspruch auf Absolutheit. Und es ist keine Erfolgsgarantie. Ich kenne ja meine Trainerstatistik. Ich bin in knapp über 1000 Ernstkämpfen als Trainer vor einer Mannschaft gestanden und habe den Spielern gesagt: So, jetzt gehen wir hinaus und gewinnen. Aber in über 300 Fällen musste ich am Schluss dem gegnerischen Trainer zum Sieg gratulieren (lacht). Aber trotzdem: Dort, wo eine Gruppe beisammen ist, kommt es meist auf dieselben Faktoren an wie im Fussball.
Was braucht es zum Erfolg?
Latour: Fleiss, Mut und Glück.
Tönt einfach.
Latour: Ist es aber nicht. Unter Glück kann man viel verstehen, das ist ein weites Feld, und es kann ungerecht verteilt sein. Und Fleiss und Mut beissen einander häufig. Die Fleissigsten sind nicht immer die Mutigsten und die Mutigsten nicht die Fleissigen. Man muss beides kombinieren können.
Kann man das Glück auf seine Seite zwingen?
Latour: Ich bin da sehr vorsichtig. Ich kenne in meinem Umfeld viele Leute, denen das Schicksal übel mitgespielt hat, ohne dass sie irgendeine Schuld daran trifft. Denken Sie nur an Leute, die gesundheitlich schwer angeschlagen sind. Denen zu sagen, man könne das Glück erzwingen, finde ich zynisch. Was ich aber vertrete: Man kann etwas dafür tun, dass man parat ist, wenn das Glück bei einem vorbeikommt.
Mit Mut und Fleiss?
Latour: Das war meine persönliche Lebensphilosophie. Und wenn man zusammen mit einer Gruppe etwas machen will, kommen drei weitere wichtige Punkte dazu. Orientieren, motivieren, organisieren. Und zwar in dieser Reihenfolge
Weshalb?
Latour: Zuerst muss man orientieren, sagen, man will. Wenn ich eine Idee habe, aber niemand weiss etwas davon, bringt das nichts. Damit diese Vision auch von anderen getragen wird, muss man motivieren, die Leute für etwas begeistern und schauen, wen man alles mit ins Boot holen kann. Und zur Umsetzung der Vision muss man dann organisieren. Oft wird der Fehler gemacht, dass man zuerst organisiert – ohne dass jemand weiss, worum es genau geht.
Wussten Sie denn immer so genau, was Sie wollten und wie der Weg dorthin läuft?
Latour: Ich wurde oft nach meiner Strategie gefragt. Meine Antwort: Ich habe die Strategie der Möglichkeiten. Wenn man etwas anpackt, öffnen sich viele Wege. Wenn man zuerst ans Scheitern denkt, fängt man gar nicht erst an. Man muss loslegen – die Schwierigkeiten kommen dann automatisch (lacht).
Und dann?
Latour: Es braucht Beharrlichkeit. Die hat man am ehesten, wenn man das, was man macht, gerne macht. Ich hatte das Glück, dass mein Beruf meiner Leidenschaft entspricht. Dann wird einem die Arbeit selten zu viel, dann kann man andere begeistern. Aber ich weiss sehr wohl, diese Chance haben nicht alle.
Man spürts, in Ihnen lodert ein Feuer. Ich zweifle aber daran, dass man sich sowas aneignen kann. Wenn einer eine trübe Tasse ist, wird er auch nach zehn Vorträgen von Ihnen nie ein Feuer entfachen können. Oder nur ein künstliches.
Latour: Das freut mich, dass Sie bei mir Feuer spüren. Es stimmt schon, nicht alle können aus ihrer Haut heraus. Aber wenn ein Chef nicht der «Feuer-Typ» ist, dafür aber hoffentlich über andere positive Eigenschaften verfügt, soll er dafür schauen, dass in seinem Führungsteam andere da sind, die anfeuern können.
Egal, welches Feuer, oft ist es nur ein Strohfeuer.
Latour: Das eigentlich Schwierige ist tatsächlich, das Feuer am Brennen zu halten. Man muss immer wieder Holz nachlegen. Und schauen, dass man die richtigen Leute um sich hat, bei denen die Art, die man hat, gut ankommt.
Bei allen wird man das nie schaffen.
Latour: Absolut richtig. Auch wenn man in der gleichen Firma arbeitet oder im gleichen Team spielt – alle Leute sind individuell verschieden, dem muss man Rechnung tragen. Harmonie ist ein abgedroschenes Wort, aber für mich ist klar, dass Leistung nur dann kommt, wenn man sich wohl fühlt. Natürlich braucht es einen gewissen Druck, aber zu viel Druck wirkt lähmend.
Muss man seine Linie also nicht immer einhalten?
Latour: Eine Linie durchziehen, ist nicht führen, sondern sortieren. Nach oben, unten, nach gut, schlecht, nach schwarz, weiss. Man braucht doch etwas Spielraum, für sich selber und für die Leute, mit denen man zu tun hat. Führen hat viel mit Vertrauen zu tun. Man sollte beim Führen das Individuum berücksichtigen und Ausnahmen tolerieren. Ich profitierte selber auch davon, dass in jungen Jahren Ausnahmen gemacht wurden. Und später als Trainer durften meine Spieler einmal pro Saison einen Joker einsetzen, mal dem Training fernbleiben oder zu spät kommen, ohne eine Busse zahlen zu müssen. Damit bin ich gut gefahren.
Die Chemie muss stimmen in einer Gruppe. Ist Ihnen da zugutegekommen, dass Sie Laborant waren?
Latour: Gewisse Regeln aus meiner Zeit als Laborant haben mir schon geholfen. Es gibt diesen Spruch «Zuerst das Wasser, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure». Das habe ich bei Spielanalysen beherzigt und immer mit dem Positiven angefangen. Aber im Unterschied zur Chemie, wo ein Milligramm mehr oder weniger tödliche Folgen haben kann, ist Fussball keine exakte Wissenschaft. Alle können mitreden, und alle haben irgendwo Recht.
Das macht den Fussball ja auch so interessant.
Latour: Ja, wobei ich mittlerweile in verschiedenste Branchen Einblick habe, Banken und so, und ich habe zunehmend das Gefühl, dass man auch in diesen Geschäftsbereichen sehr vieles nicht so genau weiss (lacht). Fussball ist nur ein Spiegelbild der Gesellschaft.
Ich bin Fussballfreund, aber die ganze Kommerzialisierung dieses Sports widert mich zunehmend an: Millionengehälter für Durchschnittsspieler, Sushi-Gelage in Sponsoren-Logen in überall gleich aussehenden «Arenen», Spielzeiten, die sich nach dem Fernsehen richten – stört Sie diese Entwicklung nicht?
Latour: Ich werde nie über den Fussball schimpfen, sonst wäre ich ungerecht, denn ich habe davon profitiert. Aber gewisse Entwicklungen muss man schon hinterfragen, und in einigen Bereichen ist es effektiv unverhältnismässig geworden. Etwas mehr Balance wäre in mancherlei Hinsicht angemessen.
Fussball ist letztlich nur ein Spiel – stimmt das?
Latour: Nein, im Spitzenfussball geht es um mehr, es geht wirklich um Existenzen. Und ganz allgemein leistet der Fussball Grossartiges: Im Schweizer Fussballverband sind Spieler aus 180 Nationen lizenziert. Fussball trägt sehr viel zur Integration bei. Schauen Sie sich nur die Namen unserer Nati-Spieler an. Es ist so: 51 Prozent des Fussballs sind fantastisch, die anderen 49 Prozent sind manchmal des Teufels.
Wie etwa diese Chaoten. Wer kann sie stoppen?
Latour: Man kann nicht alles den Behörden überlassen. Als Verein, als Trainer, als Spieler muss man ständig appellieren, dass man so etwas nicht will. Nie. Es heisst immer, es seien nur Einzelne, die Randale machen. Aber wenn ich diese Fanmärsche sehe, sieht das anders aus. Man hat auch als Fan eine Mitverantwortung, wenn man denen hinterherläuft.
War früher alles besser?
Latour: Nein, ich glaube nicht, im Gegenteil. Unsere Gesellschaft hat sich trotz allem positiv entwickelt. Es geht den meisten gut hier, und man trägt mehr Sorge zur Natur.
Sie sind in Thun geboren, Sie leben in Thun, Sie sind 42 Jahre mit der gleichen Frau verheiratet. Was sagt das über Sie aus?
Latour: Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sind mir schon wichtig – obwohl der Trainerberuf nicht gerade dazu angetan ist, aber ich weiss, wo meine Wurzeln sind. Ich mag das Gegensätzliche, bin gerne ein paar Tage in einer Grossstadt, aber nachher gehe ich gerne drei oder noch lieber vier Tage wieder in die Natur. Meine Frau ist der perfekte Ausgleich zu meiner Unstetigkeit. Ich bin mehr der «Laferi», sie hört lieber zu. Dass aus unseren beiden Kindern «öppis Rächts» geworden ist, ist das Verdienst meiner Frau. Ich war als Trainer viel unterwegs. Für meine Kinder vermutlich zu viel.
Hat sich das Leben für den Fussball gelohnt?
Latour: Es sind nicht alle Wünsche in Erfüllung gegangen. Ich hätte gerne als Cheftrainer in oberen Ligen mal einen grossen Pokal in die Höhe gestemmt. Das ist mir versagt geblieben. Dafür hatte ich das Glück, mit Mannschaften aufzusteigen, von der 2. Liga bis in die Super League, und ich schaffte den Sprung in die deutsche Bundesliga. Ich versuchte immer, das Feld ein wenig besser zu hinterlassen, als ich es übernommen hatte. Das ist mir mehrfach gelungen. Dafür bin ich dankbar und demütig. Aber fast noch lieber habe ich, wenn aus einem öden Acker, von dem alle sagen, mit dem könne man nichts machen, etwas blüht.
Sie sind anscheinend naturverbunden.
Latour: Ja, mich fasziniert die Artenvielfalt der Pflanzen- und Tierwelt ungemein, ich halte mich immer öfter in meinem Naturgarten auf, wo man übrigens auch nicht einfach nur den lieben Gott machen lassen kann. Letzthin war zufällig ein deutscher Biologieprofessor zu Gast. Der hat in einer Stunde sage und schreibe 17 Tagfalter identifiziert. Das ist doch wunderbar. Ich dokumentiere alles im Garten und lege eine Sammlung an, mit Fotografien und so. Wenn ich so die Ausrüstung Ihres Fotografen sehe, muss ich da schon noch einiges lernen. Aber jetzt habe ich dann ja Zeit.
Sie hören nach der WM in Brasilien als SRF-Kommentator auf.
Latour: Ja. Ein toller Abschluss. Und obwohl ich 2014 noch voll ausgebucht bin, höre ich 2015 auch auf mit Referaten. Definitiv. Ich will jetzt noch das Leben und die Natur geniessen, und auch mein Enkelkind soll noch etwas haben von seinem Grossvater. Wenn man das immer nur hinausschiebt, ist es auf einmal zu spät. Ich freue mich auf die Pension.