GESCHICHTE: Russland feiert 75 Jahre Stalingrad

Vor 75 Jahren endete mit der Kapitulation der Wehrmacht die Schlacht von Stalingrad. Die Russen verehren den sowjetischen Diktator Josef Stalin bis heute als überlebensgrossen Helden.

Stefan Scholl, Moskau
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Bei der Schlacht von Stalingrad starben eine Million Menschen. (Bild: Getty (Aufnahme 1942))

Bei der Schlacht von Stalingrad starben eine Million Menschen. (Bild: Getty (Aufnahme 1942))

Stefan Scholl, Moskau

Vor einer Moskauer Kneipe stehen ein paar Männer im Schnee. Sie haben einige Halblitergläser geleert, ein gedrungener Enddreissiger umarmt einen Deutschen, den er gerade kennen gelernt hat. «Mann Alter, das ist doch Klasse, dass wir Russen euch Deutschen schlagen!» «Wie schlagen?», fragt der Deutsche verdattert. «Na totschlagen!», der Russe strahlt seinen neuen deutschen Freund an, seine Pranken klopfen friedfertig auf seine Schultern. Russische Herzlichkeit hat manchmal etwas Verstörendes.

Gestern beging Russland in Wolgograd das 75-Jahr-Jubiläum der siegreichen Schlacht von Stalingrad. Am 2. Februar 1943 kapitulierten die Reste der deutschen 6. Armee. Die Schlacht mit fast einer Million Toten gilt als Anfang vom Ende Hitlerdeutschlands, Russland feiert sie als die Mutter aller Siege. Ausserdem herrscht Präsidentschaftswahlkampf, Wladimir Putin reiste persönlich an. Wenige Tage vorher annullierte das Kulturministerium die Kino­lizenz für die britisch-französische Filmkomödie «Der Tod Stalins». Josef Stalin, Stalingrad und die Sowjetunion sind in Russland viel lebendiger, als man im Westen annimmt.

Putin fast genauso beliebt

Der vor schwarzem Humor triefende Film überschreite die sittliche Grenze zur Geschichtsverhöhnung, erklärte Minister Wladimir Medinski. Wer zeige, wie der tote Stalin in einer Urinlache liege, der missachte auch die Opfer der Stalin’schen Repressionen, schimpfte der Kinoregisseur Karen Schachnasarow. Und Pawel Grudinin, kommunistischer Präsidentschaftskandidat, verglich den «Tod Stalins» mit einer Comedy über «die Kreuzigung Jesu Christi».

Eine heftige Stalin-Debatte ist entbrannt. Sie gipfelte vorerst im Studio von Radio Komsomolskaja Prawda: Dort schickte der Publizist Maxim Schew­tschenko seinen Kollegen Michail Swanidse vor laufenden Kameras mit mehreren Faustschlägen zu Boden, nachdem Swanidse lautstark Stalins Verdienste am Sieg über Deutschland im «Grossen Vaterländischen Krieg» bestritten hatte.

Stalin spaltet die Intelligenzija Russlands, ebenso sein öffentliches Bewusstsein. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums betrachten nur 25 Prozent der Russen die Stalin’schen Repressionen als historisch gerechtfertigte Notwendigkeit. Aber laut Lewada-Zentrum halten 38 Prozent der Bevölkerung Stalin für die herausragendste Persönlichkeit der Weltgeschichte, gefolgt von Wladimir Putin und dem Dichter Alexander Puschkin mit je 34 Prozent. Offenbar mögen die Russen Gedichte, aber noch mehr mögen sie starke Männer. Auch wenn die nicht zimperlich mit dem eigenen Volk umspringen.

Von Demokratie halten die Russen weniger. Nach über 70 Jahren UdSSR lernte das Land in den Neunzigern einen Kapitalismus kennen, der stark dessen Parodien in der sowjetischen Satirezeitschrift «Krokodil» glich: Banditen gingen über Leichen, die Ersparnisse einfacher Leute lösten sich in Luft auf, korrupte Reformminister schoben Gaunern riesige Ölfelder zu, der Staatschef soff. Ein Grossteil der Russen geht davon aus, dass Marktwirtschaft und Pluralismus auch im Westen gefälscht sind, nur raffinierter. Die Freiheit der Jelzin-Ära aber erlebte die Masse von ihnen als Kampf ums wirtschaftliche Überleben.

Dann kam Wladimir Putin, erklärte, man müsse die tschetschenischen Terroristen im Klo ersäufen. Ein populistischer Staatschef und einer mit Fortune: Der kletternde Ölpreis zog das Bruttosozialprodukt mit sich, Millionen Russen erlebten unter Putin, dass man sich Ikea-Möbel, Audi-Limousinen oder türkischen Pauschalurlaub leisten kann, auch wenn der einzige oppositionelle TV-Sender gleichgeschaltet ist.

Rückkehr zum Nachtwächterstaat

Die Mehrheit der Russen hatte nichts gegen die politische Rückkehr in den spätsowjetischen heroischen Nachtwächterstaat. Wladimir Putin attestiert seinen Landsleuten ein «Sieger-Gen», Kinofilme, TV-Serien und Geschichtsbücher feiern die Überlegenheit russischer Krieger von Alexander Newski bis zur sowjetischen Eishockeynationalmannschaft. Aber der Höhepunkt allen Heldentums ist der siegreiche Kampf gegen Nazideutschland, inzwischen betrachtet man sich als einzig wirklichen Gegner Hitlers.

Die Russen, die in fast jeder Familie Kriegstote zu beklagen haben, glauben das gern. So wie sie an den Generalissimus Stalin glauben, der Hitler überlistete, Sowjetrussland zur Atommacht machte, vor dem auch die USA zitterten. Stalins Mythos gerät zusehends zur historischen Rückverlängerung des Kults um Wladimir Putin. Um den schart sich heute ja ebenfalls das Volk, um einer feindlichen Welt zu trotzen. Und der Präsident kommt dabei sogar ohne Massenterror aus. Dass ihre Vorfahren vor Stalin zitterten, interessiert nur eine Minderheit. Im patriarchalischen Russland gilt es als unziemlich, unschöne biografische Details eines nationalen Führers unter die Lupe zu nehmen. So schwebt Stalin als Pfeife rauchende Ikone über dem Pulverdampf der Vergangenheit. Und Russen machen keine Witze über Ikonen. Aber die penetrante und schmeichelhafte Propaganda vom russischen Heldenvolk kommt an. Die Russen lachen über neue Witze: «Merkel sagt zu Putin: ‹Ich finde es nicht gut, dass ihr eu­re Parade zum Tag des Sieges dieses Jahr in Sewastopol veranstaltet.› Putin antwortet: ‹Gut, nächstes Jahr findet sie in Berlin statt.›» Deftig dominanter Humor.

In russischen Whatsapp-Gruppen kursiert das Video von einem blau gekleideten Väterchen Frost (der sowjetischen Version des Weihnachtsmanns), der ei­nem kleinen amerikanischen Jungen auf Russisch erklärt, er müsse ein Gedicht aufsagen. Daneben sitzt gefesselt und geknebelt ein roter, westlicher Nikolaus… Und wer in Moskau viel Taxi fährt, gerät ab und zu an einen Fahrer, der ihn belehrt: «Das russische Volk ist entschlossen, in seiner tausendjährigen Zukunft das Weisse Haus zu zerstören...»

Doch die meisten Russen sind keine Freaks. Sie spitzen zwar die Ohren, wenn sie eine westeuropäische Sprache hören, Ausländer sind hier noch immer selten. Aber dann lächeln sie, freuen sich, auch die Nachfahren der «deutsch-faschistischen Besatzer» rufen meist Euphorie empor. Manchmal hört man seltsame Komplimente über Hitlers Leistungen als Strassenbauer und Feldherr – Russen haben eben ein Faible für starke Männer.

Noch öfter aber erinnern sie sich an Erzählungen ihrer Grossmütter, wie die deutschen Soldaten sich im Krieg aufgeführt haben. Wobei die Anekdoten von geschenkter deutscher Schokolade oder glimpflich endenden Schlägereien zwischen Landsern und Dorfjugendlichen das offizielle Geschichtsbild oft auf den Kopf stellen. Die staatliche Krieger- und Siegerpropaganda ist ziemlich lückenlos, aber sie hat sich nur als dünner Film über viel tiefere Bewusstseinsströme gelegt.

«Es gibt keine moralischen Grundsätze mehr»

In dutzenden Städten stehen wieder Stalin-Denkmäler. Aber ausser Kriegsgefallener gedenkt man privat auch Angehöriger, die im Gulag umkamen. Man verhöhnt Europa als «Gayropa», aber «Eu­ro-Renovierung» gilt als Gütesiegel für innenarchitektonische Qualität. Man misstraut dem Westen und kauft ihm doch immer wieder alles ab. Und durch das weit offene Internet holt man sich alle möglichen Ideen, Trends und Moden aus dem Westen. Wehrpflichtige tanzen vor Denkmal-Panzern Twerk. Moral- und Bewusstseinsebenen kollidieren. Man feiert die Überlegenheit der «traditionellen, christlich-russischen Moral» – obwohl die Mordrate in Russland neunmal höher ist als in Deutschland.

«Die Soziologen nennen den Zustand unserer Gesellschaft Anomie», sagt der Historiker Wladimir Ryschkow, bis 2007 einer der letzten Oppositionellen in der Staatsduma. «Es gibt keine allgemein gültigen Normen und moralischen Grundsätze mehr, wir sind gleichzeitig für und gegen Stalin, beschwören die Stärke der russischen Familie und haben dabei horrende Abtreibungsraten.» Russland sei ähnlich orientierungslos wie Deutschland in der Weimarer Republik.

Um diesem Wirrwarr zu entkommen, setzt Russland – wie unter Stalin - auf überlebensgrosses Führungspersonal. «Das ist der Erdball», sagt die Zweitklässlerin Darja, sie dreht einen Luft­ballon um die eigene Achse und grinst. «Und wenn Putin sagt, er soll sich in die andere Richtung drehen, dann dreht sie sich in die andere Richtung.» Auch Russlands Grundschullehrer sehnen sich nach Helden im XXXL-Format.