Seit Monaten kämpft ein zu einer niedrigen Kaste gehörender Jus-Student darum, seine Hochzeitsprozession auf einem Pferd reitend anführen zu dürfen. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf die anhaltende Diskriminierung der sogenannten Unberührbaren.
Ulrike Putz, Singapur
Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, dann werden Sanjay und Sheetal im Juli nun endlich heiraten. Der Hochzeitsumzug, mit dem der 27-jährige Bräutigam von seinen Verwandten und Freunden zum Haus seiner Liebsten geleitet werden wird, wird ein typisch indisches Spektakel sein: Knallbunte Hochzeitsgewänder, Trommeln, schrille Flöten, Gesang und Tanz geben den «Baraat» genannten Umzügen den Anstrich eines lärmigen Karnevals.
Doch die Prozession durch das Dorf Nizampur wird mehr sein als nur der übliche Auftakt zu einem langen Fest: Wenn Sanjay hoch zu Ross durch das Heimatörtchen seiner Braut im nordindischen Gliedstaat Uttar Pradesh ziehen wird, dann wird das für ihn und seine Anhänger ein Triumphzug, für viele der Dörfler jedoch ein Tabubruch und eine Provokation sein.
Sanjay, der wie viele Inder keinen Nachnamen führt, gehört nach der alten indischen Gesellschaftsordnung der niedrigen Kaste der Jatav an. Und weil es Bräutigamen aus den niederen Schichten früher verboten war, auf einem Pferd reitend ihre Hochzeitsprozession anzuführen, sollte auch Sanjay darauf verzichten. Das zumeist beschlossen die Angehörigen der höheren Kaste der Thakurs, die das Dörfchen Nizampur dominieren: Sanjays Plan, ein Pferd besteigen zu wollen, sei eine Anmassung, ein Bruch der Tradition und deshalb verboten, verfügten die Vorsteher des Dorfes, in dem etwa 350 Thakurs und rund 50 Jatavs leben. Mit Widerspruch rechneten die Thakurs nicht: Auch wenn das Kastenwesen in Indien offiziell schon 1950 abgeschafft wurde, ist die Gesellschaft des 1,3-Milliarden-Einwohner-Landes auch heute noch nach der uralten Hackordnung strukturiert. Ganz oben stehen die Brahmanen, die Angehörigen der Priesterkaste. Dann folgen in einer verwirrend verschachtelten Hierarchie Krieger, Händler, Bauern und Bedienstete. Ganz unten stehen diejenigen, deren Vorfahren unreine Berufe erledigten und die deshalb als unberührbar galten: Latrinenputzer, Strassenfeger oder Tagelöhner.
Mehr als 160 Millionen Menschen, etwa 16 Prozent der Bevölkerung Indiens fallen in diese letzte Kategorie, die Indiens erster Justizminister Bhimrao Ramji Ambedkar «Dalits» (die Zerschlagenen) nannte. Ambedkar, der selbst aus einer Familie von Dalits stammte, lehnte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die althergebrachte Ordnung auf und setzte schliesslich das Verbot der institutionalisierten Diskriminierung durch. Doch noch immer bestimmt die Zugehörigkeit zu einer Kaste das Leben eines Inders: Die Eliten wehren sich gegen die Aufhebung der Kastenschranken, weil das ihre privilegierte Stellung gefährden würde.
«Inder können zu einer anderen Religion konvertieren, ihre Kaste jedoch werden sie niemals los», sagt der Soziologe Bindeshwar Pathak. Der Sohn einer Brahmanen-Familie hatte sein Erweckungserlebnis, als er 1961 als Student für einige Monate in eine Kolonie von Latrinenputzern zog. «Den Menschen ging es schlechter als Sklaven. Sie wurden erniedrigt, beleidigt, die meisten starben, bevor sie 40 waren», sagt Pathak. Seine Gastgeber waren Geächtete, deren durch Geburt bestimmtes Los es war, menschlichen Kot zu beseitigen. Um seine Freunde von ihrem Schicksal zu erlösen, beschloss Pathak, Toiletten zu bauen, sodass es nicht mehr nötig sein würde, Latrinen von Hand zu säubern. 1,5 Millionen Öko-Plumpsklos hat Pathak in den vergangenen 50 Jahren in den Dörfern Indiens gebaut und 200 000 Dalits zu Näherinnen, Kosmetikerinnen oder Teppichknüpfern umgeschult. Wo Philanthropen mit privaten Initiativen versuchen, den Wandel herbeizuführen, bemüht sich der Staat, die Benachteiligung der Dalits durch positive Diskriminierung auszugleichen. Dafür gibt es in Indien Quotenregelungen: 15 Prozent der Studienplätze sind für Dalits reserviert, auch im öffentlichen Dienst ist ein Prozentsatz der Stellen für die niedrigsten Schichten reserviert. Doch auch Dalits, die eine begehrte Beamtenstelle ergattern, haben es schwer: Bei Beförderungen werden sie kaum berücksichtigt. Vor allem in den Dörfern Indiens, wo der Zentralstaat weit weg ist, hat sich das alte System erhalten. Dort ist es Dalits nach wie vor de facto verboten, dieselben Tempel und Schulen wie Angehörige höherer Kasten zu besuchen. Auch Brunnen und Wasserbehälter der Höhergestellten sind für sie tabu.
Die andauernde Herabwürdigung schürt Zorn, der immer wieder in offenen Widerstand umschlägt: Im April kamen acht Menschen zu Tode, als in Indiens Metropolen Zigtausende Dalits auf die Strasse gingen. Sie protestierten gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, ein Gesetz zum Schutz der Dalits vor Hassverbrechen zu entschärfen.
2016 waren trotz schwerer Strafen für Kastenkriminalität indienweit 40 000 Gewalttaten aus Kastenhass registriert worden. Mord und Vergewaltigung von Angehörigen niedriger Kasten bleiben weiter regelmässig ungesühnt. Der über Wochen anhaltende Aufruhr veranlasste die Regierung, das Gericht zu bitten, seine Entscheidung nochmals zu überdenken – mit 160 Millionen Angehörigen sind die Dalits eine Wählergruppe, die sich Neu-Delhi gesonnen halten muss. Während es den Dalits in den Grossstädten gelingt, durch ihre schiere Zahl Druck auszuüben, bleibt es in den Dörfern Einzelpersonen wie Sanjay überlassen, die Gleichberechtigung aller Inder durchzusetzen. Mehrere Monate lang prozessierte der Jurastudent dafür, seine Traumhochzeit feiern zu dürfen. Mehrfach musste der Hochzeitstermin verschoben werden. Die ersten Instanzen schmetterten Sanjays Gesuch, seine Braut mit dem Pferd abzuholen, mit dem Hinweis ab, so ein Verhalten «bringe nur Ärger».
Tatsächlich hat Sanjays und Sheetals Hochzeit das Zeug zum Präzedenzfall: Eine 2006 durchgeführte Studie zu Unberührbaren in Indien untersuchte 565 Dörfer in 11 Bundesstaaten. In 47 Prozent der Dörfer durften Dalits keine Hochzeitsprozessionen abhalten. Sanjay, der sich bei der Dalit-Partei Bahujan Samaj Party engagiert, hatte Glück: Die indischen Medien griffen seinen Fall auf. Schliesslich verdonnerte das Oberste Gericht von Uttar Pradesh die Dorfvorsteher, Sanjay seinen Wunsch zu gewähren. Sanjay wird an seinem Hochzeitstag nun tatsächlich die Dorfstrasse hinunterreiten. Entlang der gesamten Strecke werden Polizisten postiert sein, weitere Beamte das Haus der Brautfamilie schützen: Dass sich Sanjay sein Recht erstritten hat, kommt mit dem Preis der Angst. Bittu, der Bruder der Braut, hat indischen Medien erzählt, dass er die Rache der Thakurs fürchtet.
Wenn die Journalisten wieder weg und die Polizei abgerückt sei, werde sich zeigen, wer im Dorf das Sagen habe, so der junge Mann: Schon früher hätten Angehörige höherer Kasten Dalits für angebliches Fehlverhalten gestraft, indem sie die Bewässerungskanäle für deren Felder zerstört hätten. Die Thakurs würden den Dalits in Nizampur mit Sicherheit eine Lektion erteilen, so Sanjays zukünftiger Schwager.