Sie sind eine Selbstverständlichkeit, hängen in fast jeder Wohnung, in fast jedem Haus. Doch wer sich fragt, wozu Kalender gut sind, gerät rasch vom Hundertsten ins Tausendste.
Rolf App
Kalender sind ein Geschäft. Sie sind, wie das Börsenblatt des deutschen Buchhandels vor einigen Jahren festgestellt hat, die «Goldesel im Jahreslauf». Zu Tausenden werden sie in diesen Tagen in den Buchhandlungen verkauft. «Kalender sind ein Geschäft», bestätigt Jürgen Horbach, Geschäftsführer der Athesia Kalenderverlag GmbH, unter deren Dach mit den Marken Harenberg, Heye und Weingarten einige der bedeutendsten Kalenderproduzenten zusammengeschlossen sind. Seit 2010 sei dieses Geschäft sehr stabil, «heute ohne grosses Wachstum, aber auf hohem Niveau».
Kalender bieten Orientierung. Die naheliegende Erklärung für diese anhaltende Konjunktur lautet: Kalender bieten Orientierung im Jahreslauf. Sie strukturieren das Jahr, zeigen an, wo wir stehen, spiegeln mit ihren Bildern die Jahreszeiten. Da wird es Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und in feinen Strichen und dezent platzierten Zahlen sehen wir auch die Tage verrinnen. Zeigen sie also einfach nur Monat und Tag an, sind diese schönen Bilder nur Dekoration? Da kann man sich sehr täuschen. Für die Orientierung in der Zeit ist die Agenda da. Sie sagt uns, was wir zu tun haben. Der Kalender nicht.
Kalender sind ein Statement. Das Kalendergeschäft treffe zumeist auf Mainstream-Kunden, sagt Horbach. «Die Themen folgen den Vorlieben, die andernorts eine Rolle spielen und die dann bei den Kalendern abgebildet werden.» Am beliebtesten seien Haus- und Wildtiere, Länder und Regionen und damit auch grosse Städte, Fotokunst und Bildende Kunst, und schliesslich auch Entertainment-Titel. Das Regionale spiele eine Rolle, Schweizer kaufen gerne Kalender mit Schweizer Sujets. «Das ist ohnehin ein Merkmal: Kalenderkäufer umgeben sich oft mit Motiven, die sie realiter sowieso um sich haben.» Und, neben dem Nutzwert, den jeder Kalender mit sich bringt, sind sie auch ein Statement an die Aussenwelt. «Ich zeige Freunden und Bekannten meine Vorlieben.»
Kalenderkäufer sind weiblich. Der Grossteil der Kalender wird im Buchhandel verkauft, an eine Kundschaft, die Jürgen Horbach so umschreibt: «Mehrheitlich weiblich, nahezu alle Altersgruppen, anspruchsvoll, mittleres bis hohes Einkommen, designorientiert.» Oft seien sie konservativ in dem Sinne, dass sie bestimmten Themen treu bleiben.
Kalender sind ein Eldorado für Fotografen. Die Vielfalt ist überwältigend und die Qualität beeindruckend, wie eine kleine Stichprobe in einigen Buchhandlungen zeigt. Da sind die einsamen Küsten von «Meeresblicke» (Mareverlag). Da sind Patrick Loertschers im eigenen Verlag erschienene, von Tibet bis Chile und von Neuseeland bis in die Schweiz führenden «Magic Mountains». Wir sind unterwegs in Südafrika «zwischen Tafelberg und Kalahari» (Verlag Ackermann), wir sehen in die Strassenschluchten New Yorks (Geo Special, Verlag teNeues) und erkunden, wie jedes Jahr, mit Yann Arthus-Bertrand «Die Welt von oben» (Weingarten). Auch für den ausgefallenen Geschmack findet sich einiges. Wer hätte gedacht, dass es so enorm bunte Untergrundstationen gibt (Subway Stations, bei Delius & Klasing)? Und wer, dass nicht nur Künstler am Werk sind, sondern neuerdings auch Algorithmen? In «Kunst 2.0» (Ackermann) «malen» sie neue Motive im Stil längst verstorbener Meister.
Kalender bauen eine Gegenwelt. Doch kann man sich angesichts der unübersehbaren Vielfalt von Kalendern täuschen. Nicht jedes Thema ist geeignet. Kalender klammern den Alltag aus. Sie meiden das Schmutzige, Schäbige der Welt. Statt dessen öffnen sie ein Fenster ins Wilde und Schöne. Sie zeigen Natur, aber nur selten den Menschen. Ausnahmen bilden nur Kindergesichter und die einschüchternd perfekten Körper von Erotikkalendern. Selbst auf Architekturkalendern findet sich kein Mensch. Auch die erwähnten U-Bahn-Stationen präsentieren sich beinahe menschenleer. Was ist da los? Träumen wir von einer Welt, in der uns die Mitmenschen nicht ständig auf die Pelle rücken? Atmen wir auf, wenn wir, überfüllten Strassen, Bussen und Zügen entronnen, an der Wohnzimmerwand unsere kleine Gegenwelt entdecken?
Kalender erzählen von der Zeit. So sind denn Kalender ein so «sonderbares Ding» wie die Zeit, die mit ihren abreissbaren Seiten verrinnt. Und von der die alternde Marschallin in Hugo von Hofmannsthals «Rosenkavalier» weise, aber auch resignierend sagt: «Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fliesst sie.»