Unsere Autorin isst gerne Fleisch. Fleisch von Tieren, die ein gutes Leben und einen schnellen Tod hatten. Darum mästet sie neun Monate zwei Wollschweine und bringt sie persönlich zum Metzger.
Astrid Bossert Meier
Von meinem Bürofenster im ersten Stock sehe ich direkt auf die Schweineweide hinunter. Aber was heisst da Schweineweide. Seit heute früh ist es nur noch eine Weide. Die Schweine hängen beim Metzger im Nachbardorf am Haken. Bald füllen sie als Bratwürste, Hackfleisch und Koteletts unsere Gefriertruhe.
Der Wecker klingelte um halb fünf. Nachts war ich zweimal aufgewacht. Die Gedanken bei den beiden Wollschweinen, deren letzter Tag heute angebrochen ist. Neun Monate lebten sie auf der Wiese vor unserer Haustüre. Mit ihren kräftigen Rüsseln wühlten sie sich durch ihre Weide in der Grösse eines Eishockeyfeldes. Jeder Quadratzentimeter Land wurde umgepflügt, um an Delikatessen wie Wurzeln, Käfer oder Würmer zu gelangen. Jetzt ist das Eishockeyfeld ein Acker. Kein einziger grüner Halm ist übrig geblieben.
Ich hab nichts gegen das Naturell der Schweine. Sie wühlen nun mal gern. Doch kampflos überliess ich ihnen das Feld nicht. Das Wiesland wurde in vier Abschnitte unterteilt, auf welchen sie sich jeweils eine Woche gütlich tun konnten. Jeder Samstag wurde zum Freudentag. Die Schweine bissen vergnügt ins frische Gras, während ich mich mit Schaufel und Hacke abmühte. Schwitzend drehte ich die umgepflügten Grasbüschel zurück, ebnete die tiefsten Mulden aus, säte da und dort etwas nach. Es grünte. Dann begann das Spiel von vorne. Diese Mühe ist jetzt vorbei.
Um viertel vor fünf trinke ich in Stille Kaffee. Zehn Minuten später bringe ich «Madame Schnittlauch» und «Madame Peterli» die Henkersmahlzeit. Sie sollten ja eigentlich keine Namen bekommen. Sonst wird der Abschied dereinst noch schwieriger. So meine Worte vor neun Monaten. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis mein Mann die Gekrauste mit Peterli und die Glatthaarige mit Schnittlauch betitelte. Und mir beibrachte, dass man Schweine mit «Häsehäse» ruft. So wie es sein Nachbar immer getan hatte.
«Häsehäse» funktionierte einwandfrei. Und Schweine lernen schnell. Für «Büsbüs» wackelten sie höchstens mit den Ohren. Bei «Bibibibi» wussten sie, dass nur das Federvieh Körner kriegt. Doch auf «Häsehäse» rannten sie in gestrecktem Galopp über die ganze Weide zur Futterquelle. So auch jetzt. Zum letzten Mal. «Häsehäse, häsehäse». Kräftiges Grunzen und leises Quietschen hinter dem Elektrozaun markiert die Vorfreude. Seit zwei Tagen steht ein ausgeliehener Viehtransporter in der Weide. Seit zwei Tagen füttere ich sie dort, damit sie mir am heutigen Morgen widerstandslos folgen. Eine unnötige Vorsichtsmassnahme. Peterli und Schnittlauch finden den Transporter auch ohne Futter spannend. Stundenlang schnüffeln sie darin herum. Für Schweine, die noch besser riechen als Hunde, offensichtlich äusserst aufschlussreich.
Kaum erreiche ich den Viehtransporter, erwarten mich die Schweine ungeduldig beim Trog. Mit gewohnt gutem Appetit schlagen sie zu, während wir die Ladeklappe schliessen. Es ist genau fünf Uhr, als ich die vier Kilometer zum Nachbardorf unter die Räder nehme.
Metzger Urs Stöckli hatte mich letzte Woche genau instruiert, wie ich den Anhänger vor sein Schlachthaus parken muss. Im zweiten Anlauf klappt es. Jetzt schnellt mein Puls hoch. Trotz Eiseskälte werfe ich Schal und Handschuhe ins Auto zurück. Der Metzger ist gewohnt freundlich, doch etwas bedrückt. «Willst du wirklich dabei sein?» Am Vorabend habe er überlegt, mich anzurufen und abzuraten. Selbst viele Bauern würden es nur schwer ertragen, ihren Tieren beim Sterben zuzusehen. «Es ist nicht schön, wenn das Schwein umkippt.»
Als ich meinen Plan letzte Woche mit dem Metzgermeister besprochen hatte, führte er mich ins Schlachthaus. Er zeigte mir die übergrosse Zange, mit welcher er den Schweinen einen 230 Volt starken Stromstoss verabreicht, der sie sofort bewusstlos umkippen lässt. Er erklärte, dass er dann mit einem Messer ihre Halsschlagader aufschneidet und sie entblutet und gleich weitere drei Minuten Strom gibt, bis der Herzstillstand eintritt. «Du darfst dabei sein, aber überleg es dir gut», hatte er damals gesagt.
Ich habe es mir gut überlegt. Neun Monate lang habe ich mir befohlen, die herzigen Säuli nur als Haustiere auf Zeit zu betrachten. Der Plan scheiterte erbärmlich. Am ersten Tag waren die von einem befreundeten Landwirt kommenden Ferkel so scheu, dass sie sich im Häuschen verkrochen. Doch bereits nach einem Monat liessen sie sich wie Hunde streicheln. Und weitere Wochen später musste ich sie nur etwas kraulen, und schon legten sie sich genüsslich auf die Seite, streckten mir ihre dicken Bäuchlein entgegen und genossen mit geschlossenen Augen die Massage. In solchen Momenten stiegen leise Zweifel auf, ob die beiden Frohnaturen wirklich auf der Schlachtbank enden sollten. Das Herz sagte Nein. Der Kopf sagte Ja – und siegte. Denn eines will ich nicht: Die eigenen Schweine verhätscheln und gleichzeitig ein vakuumverpacktes Steak beim Grossverteiler kaufen.
Unbekümmert von solch existenziellen Fragen lebten die Schweine ihr Leben. Mit ihrem sonnigen Gemüt schlichen sie sich in unsere Herzen und brachten uns zum Schmunzeln. Sie begrüssten Spaziergänger freundlich grunzend und nahmen jeden Grasbüschel dankbar entgegen. Sie waren handzahm, sagt man. Das kam uns übrigens mal wirklich zugute.
Mit Schrecken denke ich an jenen Morgen zurück, als Schnittlauch mit Blut überströmter Nase auf mich zulief. Keine Ahnung, wie sie sich verletzt hatte. Aufgrund der grossen Schnittwunde überlegte ich ernsthaft, den Tierarzt zu rufen. Doch es blutete nicht sehr lange, und ich entschied, zuzuwarten. Ob man die Wunde etwas pflegen sollte? «Das sind Schweine», sagte mein Mann und verdrehte die Augen.
Schnittlauchs Rüssel war ziemlich geschwollen. Aber sie frass. Ein gutes Zeichen. Zwei Tage später jedoch windeten sich kleine, weisse Maden aus der Wunde. Jetzt sollte sich zeigen, was handzahm ist. Schnittlauch kam freudig, als wir uns mit der Apothekerausrüstung näherten. Die Wundpflege gestaltete sich trotzdem schwierig. Mein Mann hielt die Hinterbeine, währenddem ich ihren Rüssel einem desinfizierenden Intensivbad unterzog, die Maden herauswusch und das Ganze mit desinfizierender Salbe versiegelte.
Das Prozedere wiederholten wir täglich, wobei Schnittlauch immer skeptischer wurde, und wir sie bald nur noch mit Mühe einfangen konnten. Gut, brachte sie damals erst rund 40 Kilo auf die Waage, beim Schlachten waren sie fast doppelt so schwer. Die Wunde heilte. Mit einigen Streicheleinheiten schleimte ich mich wieder bei ihr ein.
Wenn ich will, dass die Schweine möglichst stressfrei sterben, bleibe ich bis zum bitteren Ende bei ihnen. So mein Credo. Ich habe mich auf den Moment im Schlachthof vorbereitet. Und doch weiss ich nicht, ob ich ihn ertrage. Mit Hilfe des Metzgers öffne ich den Viehtransporter. Vorsichtig, damit die Schweine nicht seitwärts rausflitzen.
Doch es besteht keine Gefahr. Selbstbewusst marschieren sie aus dem Wagen in die Metzgerei. Sie quietschen nicht, sie sind nicht eingeschüchtert. Stattdessen schnüffeln sie neugierig den Boden ab. Der Metzger ist ruhig und entspannt. Er schliesst die Aussentüre, vergewissert sich nochmals, ob ich zusehen will.
Dann nimmt er die grosse Zange und nähert sich mit beruhigenden Worten «Madame Schnittlauch». Sie schaut ihn an. Im nächsten Moment steckt ihr Kopf in der Stromzange. Sie fällt so schnell, dass ihr kein einziger Ton entweicht. Nach wenigen Sekunden legt Metzger Stöckli die Stromzange beiseite und schlitzt dem Schwein mit einem gezielten Stich die Halsschlagader auf. Das Blut quillt heraus. Schon hat er die Zange wieder in den Händen. Weitere Stromstösse sorgen für den Herzstillstand. Schnittlauch ist tot. Nein, sie hat nicht gelitten. Nicht geschrien. Nicht gezappelt. Trotzdem fliessen bei mir einige stille Tränen. Ich hatte den Metzgermeister vorgewarnt, dass ich nahe am Wasser gebaut sei. «Ich werde dann keine Zeit haben, dich zu trösten», hatte er gesagt.
Im Gegensatz zu mir beobachtet Peterli das Geschehen emotionslos. Die Wurfgeschwister waren seit ihrer Geburt beisammen. Sie grasten Seite an Seite, wühlten Seite an Seite und schliefen Seite an Seite. Ärger gab es höchstens am Futtertrog, wo Peterli stets Zweite machte, aber trotzdem immer runder war. Der tote Körper ihrer Schwester interessiert sie nicht. Ohne Hektik nimmt der Metzgermeister die Stromzange erneut in die Hand. Auch Peterli lässt ihn ohne Scheu auf sich zugehen. Und ebenso schnell wie Schnittlauch sinkt auch sie durch den Stromstoss still zu Boden, wird entblutet und stirbt.
Es ist 5.20 Uhr. Keine halbe Stunde nach dem Aufladen auf den Transporter sind beide Schweine tot. Sie hatten ein schönes Leben, sage ich mir immer wieder. Sie hatten ein schönes Leben. Und wenn ich Fleisch essen will von Tieren, die es gut hatten, müssen sie getötet werden.
Ob ich unsere Schweine überhaupt essen kann? Daran will ich noch nicht denken. Stattdessen überlege ich, was ich all den Kindern sage, die in ihrem Leben noch nie ein Schwein berührt hatten, nun aber Peterli und Schnittlauch mit den selbst gesammelten Eicheln fütterten und über ihre rauen Borsten strichen. Und was sage ich deren Eltern, die über die Sauberkeit der Tiere staunten – so wie wir selber? Ehrlich, kein einziges Mal haben sie in ihr Häuschen gepinkelt oder gekackt. Ihr Strohnest war stets pieksauber, und in den ganzen neun Monaten reichte eine einzige grosszügige Ladung Stroh, in welches sie sich bei kalten Temperaturen über die Nase hinaus vergruben.
Es ist halb sechs Uhr morgens. Ich schliesse die Ladeklappe und fahre nach Hause. Dorthin, wo es nun so still ist. Stunden vergehen, in denen meine Gedanken immer wieder zu den Schweinen zurückkehren. Sie hatten ein schönes Leben, sage ich mir. Aber hätten sie die Wahl gehabt, wären sie jetzt nicht tot.
Hinweis
Astrid Bossert Meier ist freischaffende Journalistin und dipl. Sozialarbeiterin. Sie lebt in Fischbach LU.