MATTERHORN: «Der Seilriss hat Leben gerettet»

Vor 150 Jahren gelang die Erstbesteigung. Matthias Taugwalder (34) ist ein direkter Nachfahre der zwei Taugwalder, die das Matterhorndrama überlebt hatten. Nun hat er recherchiert, um Fakten von Mythen zu trennen.

Drucken
Bild: Grafik: Janina Noser / Neue LZ

Bild: Grafik: Janina Noser / Neue LZ

Interview Arno Renggli

Matthias Taugwalder, im Frühjahr hat das Schweizer Fernsehen einen Zweiteiler zum Matterhorn-Drama gezeigt. Darin gab es Thesen zur Schuldfrage: Taugwalder senior habe das Seil gekappt. Oder Edward Whymper habe beim Aufstieg ein Seil durchgeschnitten, um als Erster zum Gipfel zu kommen, weshalb dann beim Abstieg ein schlechteres Seil eingesetzt worden sei. Was halten Sie davon?

Matthias Taugwalder: Die Filme von SRF fand ich gut gemacht, aber in solchen Aspekten etwas reisserisch. Beide Thesen sind wenig plausibel.

Weshalb?

Taugwalder: Die These vom durchschnittenen Seil wurde auch genährt durch ein Stück Seil, das in Zermatt spektakulär hinter Panzerglas ausgestellt ist. Es weist Schnittspuren auf. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es tatsächlich die Rissstelle des Seiles ist. Wir wissen, dass sich Whymper diese Rissstelle damals aushändigen liess und nach London mitnahm.

Aber Taugwalder senior könnte das Seil ja trotzdem durchgeschnitten haben, als es zum Unfall kam.

Taugwalder: Diese These hat auch Whymper ins Spiel gebracht, wobei er sie wohlweislich anderen in den Mund legte. Doch ein solcher Schnitt ist absolut unrealistisch, weil der Sturz derart schnell ging, dass Taugwalder senior kaum Zeit dafür gehabt hätte. Untersuchungen haben zudem gezeigt, dass beim Sturz mit vier Mann das Seil zwangsläufig reissen musste. Einfach wegen des Gewichts.

Und die These von Whympers Schnitt?

Taugwalder: Whymper selber hat später Andeutungen in diese Richtung gemacht. Und es scheint passend zum Psychogramm des Ehrgeizigen, der unbedingt als Erster oben sein wollte. Kommt hinzu, dass Taugwalder senior bei den Abstiegsvorbereitungen offenbar tatsächlich ein Seil vermisste, worauf er dann ein anderes, dünneres nahm, das ja dann riss.

Dann wäre also Whymper schuld.

Taugwalder: Nein, zumindest nicht in diesem Kontext. Die schon erwähnten Untersuchungen haben auch gezeigt, dass ein dickeres Seil ebenfalls gerissen wäre. Die Frage, welche Art von Seil zum Einsatz kam, ist irrelevant.

Wenn man die Ergebnisse Ihrer Recherchen anschaut, fällt vor allem auf, dass sich Whympers Berichte mit den Monaten und Jahren immer schärfer gegen die Taugwalders richten. Nach dem Unfall keine Spur von Vorwürfen, und dann tauchen sie auf und wuchern. Wieso das?

Taugwalder: Ich kann hierzu nur Vermutungen anstellen: Whymper geriet zunehmend unter Druck, er war der Hauptinitiant der Expedition und wurde somit auch für verantwortlich erachtet. Nach dem Unfall mit drei toten Briten plante die Queen ja sogar, den Klettersport zu verbieten. Etwas unglücklich war zudem, dass Whymper die protokollierten Aussagen von Taugwalder senior nie lesen durfte, also nicht wusste, was dessen Version war. Deshalb ging er womöglich in die Offensive.

Und eben: sein Charakter. Auch Reinhold Messner schreibt, Whymper sei von Ehrgeiz besessen gewesen.

Taugwalder: Sicher wollte er lieber als Held denn als Schuldiger dastehen. Sicher wollte er sich den Ruhm des Erstbesteigers nicht schmälern lassen, zumal er aus eher einfachen Verhältnissen kam und in der britischen Bergsteigerszene nicht von vornherein grosses Ansehen genoss. Es kam aber hinzu, dass der wortgewandte Whymper einfach mehr Möglichkeiten hatte als die eher wortkargen Taugwalders, seine Version unter die Leute zu bringen. Dies war eine meiner Hauptmotivationen, zu recherchieren: auch den beiden Taugwal­ders eine Stimme zu geben.

Als weiterer Sündenbock gilt der damals erst 19-jährige Douglas Hadow, der mit seinem Ausrutschen den Sturz auslöste. Verschiedenen Quellen zufolge war er der schwächste Berggänger der Truppe.

Taugwalder: Ja, diese Quellen gibt es, wobei eine andere Quelle besagt, dass auch Lord Francis Douglas beim Aufstieg Probleme hatte. Plausibel ist, dass die Tour für alle anspruchsvoll war. Aus heutiger Sicht und unter Berücksichtigung der damaligen klettertechnischen Umstände hätte eigentlich jeder von ihnen den Unfall verursachen können.

Trotzdem: Hätte man den unerfahrenen Hadow nicht besser gar nicht erst mitgenommen? Die Zusammensetzung der Gruppe geschah ja ohnehin sehr kurzfristig und eher zufällig.

Taugwalder: Tatsächlich wollte Whymper mit dem italienischen Bergführer Jean-Antoine Carrel von der anderen Seite her in den Berg. Doch Carrel war schon los, Whymper eilte nach Zermatt, stiess unterwegs auf seinen Landsmann Lord Francis Douglas, der bereits Taugwalder senior engagiert hatte. In Zermatt trafen sie auf Charles Hudson, der vom französischen Bergführer Michel Croz und seinem Freund Hadow begleitet wurde. Whymper konnte sich anschliessen, aber schlecht die Teilnahme Hadows verweigern. Die ganze Situation bedeutet auch, dass grosser Zeitdruck und entsprechendes Chaos herrschten: Man wollte noch vor Carrel oben sein, was ja dann auch gelang.

Diskutiert wird auch die Reihenfolge der sieben beim Abstieg: besonders, dass die beiden Taugwalder als Führer nicht besser verteilt waren. Ist da was dran?

Taugwalder: Nun, die Annahme war, dass auch Croz und Hudson quasi Führerqualitäten haben, insofern war die Reihenfolge schlüssig. Aus heutiger Sicht würde man eher sagen, die verbundene Siebnertruppe war insgesamt zu gross. Interessant an der Reihenfolge ist, dass im Vergleich zum Aufstieg Whymper und Lord Francis Douglas die Plätze getauscht hatten. Man weiss nicht genau, wieso, womöglich wollte Whymper länger oben bleiben und eine Skizze fertigstellen. Taugwalder junior beklagt viel später in einem Brief, dass der von ihm verehrte Lord Francis Douglas, der sein persönlicher Klient war, anstelle des ihm unsympathischen Whymper abgestürzt sei.

Den erwähnten Brief von Taugwalder junior, geschrieben 52 Jahre nach dem Unglück, publizieren Sie im Katalog zu Ihrer Ausstellung. Es ist ein sehr berührendes Dokument, das auch die persönliche Tragik der Taugwalders zeigt. Kann es da irritieren, dass er dafür Geld bekommen hat?

Taugwalder: Ich finde nicht. Er hatte Fragen zum damaligen Geschehen beantwortet und wurde dann gebeten, seine Sicht in einem etwas längeren Text festzuhalten. Dafür bekam er 50 Franken. Es war 1917, während des Ersten Weltkriegs, wie viele andere litt er Hunger, das Geld war natürlich willkommen.

Apropos Geld: Zu Diskussionen Anlass gab ja auch die Behauptung Whympers typischerweise auch erst später formuliert –, die Taugwalders hätten noch beim Abstieg vorgeschlagen, auf das vereinbarte Honorar zu verzichten. Dies in der Absicht, ihren Ruf als Bergführer zu wahren. Whymper zeigte sich entrüstet über dieses Kalkül direkt nach dem Unglück.

Taugwalder: Was nach dem Unglück beim Abstieg passierte, ist unklar. In gewissen Punkten steht Aussage gegen Aussage. Da muss nicht mal böse Absicht dahinterstecken. Mit Sicherheit standen alle drei unter Schock. Später berichtete Whymper, er habe die Taugwalders praktisch im Alleingang runtergebracht, während diese aussagten, Whymper sei panisch gewesen. Plausibler ist, dass die zwei erfahrenen Berggänger Whymper geholfen und ihn somit quasi gerettet haben.

Und die Sache mit dem Geld?

Taugwalder: Die ist schwer zu beurteilen. Doch Whymper sprach nur englisch, die Taugwalders nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass eine so differenzierte Unterhaltung stattgefunden hat. Und ein Kalkül wäre gerade für Taugwalder senior jedenfalls nicht aufgegangen. Seine Karriere war nach dem Unfall praktisch beendet, sein Leben ruiniert. Darum war das Ganze eine doppelte Tragödie.

Nach wie vor ist eine der vier Leichen verschwunden, die von Lord Francis Douglas. Es heisst, falls sie gefunden würde, könne man den Unglücksverlauf endgültig klären. Wieso?

Taugwalder: Das ist vielleicht etwas übertrieben. Aber sollte man die Leiche mal finden, taucht wohl auch das Seilstück mit der zweiten Rissstelle auf, Douglas war ja der Oberste der Abstürzenden. Das könnte zu neuen Erkenntnissen führen.

Erkenntnisstand heute: Gibt es einen Hauptschuldigen für das Matterhorn-Unglück?

Taugwalder: Nein, den gibt es nicht. Es waren alle irgendwie beteiligt mit Handlungen und Entscheidungen. Aber in allererster Linie war es ein Unfall. Und aus heutiger Sicht sogar ein durchaus absehbarer. Der Alpinismus steckte damals noch in den Kinderschuhen.

Im Vorwort zum Katalog schreiben Sie: «Wäre das Seil damals nicht gerissen, würde ich nicht existieren.»

Taugwalder: Ohne den Seilriss wären alle sieben in den Tod gestürzt, auch mein Ururgrossvater. Er war damals schon mit meiner Ururgrossmutter liiert, aber sie hatten noch keine Familie gegründet. Der Seilriss rettete ihm, seinem Vater und Whymper das Leben.

Eines der bei der Erstbesteigung eingesetzten Seile. (Bild: Keystone)

Eines der bei der Erstbesteigung eingesetzten Seile. (Bild: Keystone)

Ein Schuh des abgestürzten und nie gefundenen Lord Douglas. (Bild: Keystone)

Ein Schuh des abgestürzten und nie gefundenen Lord Douglas. (Bild: Keystone)