Erstmals wird in der Schweiz ein erwachsener Patient mit Spinaler Muskelatrophie mit einem neuen, aber teuren Medikament eines Zuger Herstellers behandelt. Bei Kindern ist der Erfolg beeindruckend.
Bruno Knellwolf
Seine Augen sind wachsam, sein Auftritt sehr freundlich. Thomas Sari sitzt im Rollstuhl am Hafen von Romanshorn. Seit früher Kindheit leidet der 44-jährige Kaufmann an der Nervenkrankheit Spinale Muskelatrophie (SMA), ähnlich der ALS, der Krankheit des kürzlich verstorbenen Physikers Stephen Hawking. «Bei der Spinalen Muskelatrophie sterben aufgrund eines genetischen Defektes die motorischen Nervenzellen frühzeitig ab», sagt der Arzt Christoph Neuwirth von der ALS-Klinik am Kantonsspital St. Gallen.
«Als Kind kam ich nur auf allen Vieren die Treppe hoch», sagt Sari. Bald fand man heraus, dass der Knabe an der Erbkrankheit SMA leidet. Zwar konnte er als Kind noch Velo fahren, «wenn ich auch nie der Schnellste war». Doch die Krankheit führt zu fortlaufendem Muskelschwund. Bis 2006 konnte Sari noch ohne Hilfsmittel gehen, dann nur noch an Stöcken, seit neun Jahren ist er im Rollstuhl.
Der Grund für die Erkrankung ist ein verändertes oder fehlendes Gen namens SMN1. Dieses SMN1-Gen ist verantwortlich für das Überleben der motorischen Nervenzellen, der Motoneuronen. Das sind Nervenzellen im Rückenmark, die Impulse vom Hirn zu den Muskeln weitersenden. Liegt ein Gendefekt vor, sterben diese Motoneuronen ab. Die Muskelzellen erhalten keine Bewegungsimpulse mehr, worauf sie verkümmern und absterben. Muskelschwäche und Schwund sind die Folge. «Kinder werden mit zunehmendem Alter gelähmt», sagt Neuwirth. Und sterben je nach Variante der Krankheit früher oder später an den Folgen. «Meist, weil die Atemmuskulatur zu schwach wird.»
Unterschieden werden fünf verschieden schwere Typen der Nervenkrankheit SMA: Das geht von der pränatalen Spinalen Muskelatrophie über jene der Kleinkinder bis zur erwachsenen SMA. Kleinkinder sterben in der Regel nach ein bis zwei Jahren. Etwas ältere Kinder lernen wegen der Krankheit das Gehen nicht, Erwachsene mit dem Typ III, wie Thomas Sari, verlernen es. Die Spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung, Neuwirth spricht von 1 zu 10000 Fällen pro Jahr bei Neugeborenen. In der Schweiz leiden etwa 100 Kinder an SMA, die Zahl erwachsener Patienten ist kleiner.
Damit der Gen-Defekt vererbt wird, müssen beide Elternteile defekte Gene in sich tragen. «In der Regel tragen beide Elternteile ein unverändertes und ein verändertes, ungesundes Gen. Deshalb erkranken die Eltern selbst nicht.» Geben aber beide Eltern das veränderte Gen weiter, wird der Gendefekt zur Krankheit. Sind beide Eltern SMA-Träger, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind an Spinaler Muskelatrophie leiden wird, bei 25 Prozent. «Jeder fünfzigste Mensch läuft mit einem kranken SMN1-Gen herum», sagt Neuwirth. Diese Menschen wissen das aber nicht.
Betroffene Babys sind schlaff, entwickeln sich nicht richtig, haben eine Trinkschwäche und keine Kopfkontrolle und lernen nicht frei zu sitzen. «Seit ich ein Kind war, konnte man nichts gegen die Erkrankung tun», erzählt Sari. Doch dann hörte er von seinem ebenfalls an SMA leidenden Bruder, der in Deutschland eine völlig neue Therapie erhielt, die seit Oktober 2017 auch in der Schweiz zugelassen ist: Ein Medikament der Zuger Firma Biogen, die Spinraza-Therapie. «Und diese ist wirklich ein Durchbruch», sagt Neuwirth. «Die Idee hinter der Therapie eröffnet auch Ansätze für die Behandlung anderer Krankheiten».
Die Therapie nutzt aus, dass es neben dem SMN1-Gen noch ein SMN2-Gen gibt. Dieses produziert wie das SMN1-Gen das notwendige SMN-Protein, allerdings in deutlich geringeren Mengen, die instabil sind. Dank des neuen Spinraza-Medikaments wird das SMN2-Gen dazu gebracht, dass es das funktionstüchtige und stabile SMN-Protein zu Genüge herstellt.
Alle Studien mit Spinraza konnten vorzeitig wegen der deutlichen Wirkung abgebrochen werden. Es wäre ethisch nicht vertretbar gewesen, der Placebo-Gruppe der SMA-Kinder das erfolgreiche Medikament nur wegen des Studiendesigns nicht abzugeben. Bei dieser Nervenkrankheit drängt die Zeit. Es zeigten sich dramatische Verbesserungen bei den kleinen Patienten. «Viele Kinder haben sich fast normal entwickelt. Sie konnten die Meilensteine der Bewegungsfähigkeit erreichen. Sie konnten sitzen und sogar gehen, was normalerweise nicht der Fall ist», sagt Neuwirth. Die Krankheit konnte bei den meisten Kindern zumindest deutlich aufgehalten werden.
Bei der Therapie muss die Substanz direkt an die Nervenzellen gebracht werden, die betroffen sind. Das erreicht man, indem man den Rückenmarkkanal mit einer Nadel punktiert und das Medikament direkt dort reinspritzt. Am Anfang muss das häufig geschehen, sechs Mal im Jahr, danach jährlich noch drei Mal alle vier Monate.
St. Galler ALS-Klinik hat nun als erste Stelle in der Schweiz mit Thomas Sari einen erwachsenen Patienten mit der neuartigen Therapie behandelt. Der 44-Jährige hat soeben die dritte Behandlung hinter sich und sagt, dass einige Handgriffe besser gingen, er sich sicherer fühle beim Transfer aus dem Rollstuhl. Sein Bruder, der noch gehen kann, fühle sich sicherer dabei, seit er die Behandlung erhalte. Doch wie bei seltenen Erkrankungen üblich, hat die Therapie einen hohen Preis (siehe Text unten). Den Betroffenen verspricht sie aber unbezahlbare Linderung. «Ich hoffe zumindest auf eine Stabilisierung der Krankheit oder gar auf eine leichte Verbesserung.» So dass er weiterhin seinen Alltag selbstständig bewältigen und seiner Arbeit in Arbon nachgehen könne. Das Medikament macht ihm Mut.