TIERETHIK: Zwiespältige Beziehung

Die Menschen empören sich über den Tierquäler von Hefenhofen. Der Fall zeigt: Das Verhältnis von Mensch und Tier ist gestört. Tierphilosophen und Tieranwälte fordern ein Umdenken.

Philipp Bürkler
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Die Nähe zum Tier ist oft nur oberflächlich. (Bild: Dittrich/Caro)

Die Nähe zum Tier ist oft nur oberflächlich. (Bild: Dittrich/Caro)

Philipp Bürkler

Melissa Müller

Die Bilder ausgemergelter und verendeter Pferde, verhungert im Stroh, machen fassungslos. Wie kann ein Mensch so grausam sein? Eine breite Öffentlichkeit ist emotional aufgeladen, nachdem Bilder vom Hof des Thurgauer Pferdezüchters Ulrich K. aufgetaucht sind.

Die Behörden unternahmen jahrelang nichts, auch weil sie sich vor dem gewaltbereiten Bauern fürchteten. Erst Bürgerinnen und Bürger haben nun mit Druck von der Strasse die Behörden zum Handeln gezwungen. Der Hof wurde geschlossen und der ­Bauer in psychiatrische Obhut ­gebracht.

Obwohl in unserer Gesellschaft ein breiter Konsens darüber besteht, dass Tierquälerei gestoppt werden muss, zeigt der Fall Hefenhofen eine Doppel­moral. Menschen protestieren zwar gegen Tierquälerei auf der Strasse, essen aber trotzdem Fleisch, sehen im Zirkus tanzenden Elefanten zu, halten Hunde in Zwingern oder posten Katzenvideos auf Facebook.

Katzen auf Facebook, ­Hühner im Stall

«Tiere hatten schon immer eine Doppelfunktion», sagt Markus Wild, Tierphilosoph an der Universität Basel. «Sie sind Begleiter und Gefährten. Wir hängen an unseren Haustieren und beuten zugleich Schweine und Hühner brutal aus.» Dabei sei es wichtig, dass Hunde und Katzen sichtbar seien, etwa in Internetvideos. Hühner und Schweine müssten hingegen möglichst unsichtbar in den Mastbetrieben bleiben. In die gleiche Richtung argumentiert Hilal Sezgin, Publizistin und Betreiberin eines Gnadenhofs: «Wenn die Ställe Glaswände ­hätten, wären alle Menschen ­Veganer», schreibt sie.

Unser Verhältnis zum Tier ist gestört. Das muss sich radikal ­ändern, findet auch Antoine F. ­Goetschel, ehemaliger Tierrechtsanwalt und Autor des Buches «Tiere klagen an». Hunde, Katzen oder Wellensittiche sind völlig selbstverständlich «Haustiere» und geniessen deshalb einen höheren Status als Schweine, Rinder oder Hühner, die zum Gebrauch bestimmt sind. Die Bezeichnung «Nutztier» verdeutlicht die geringere Wertschätzung. «Auch ein Heimtier ist ein Nutztier. Es hat den Nutzen, unser Leben glücklicher zu ­machen», sagt Goetschel. Man ­denke an die vielen Herrchen und Frauchen, die sich ihren Liebling als Partner- oder Kindsersatz halten.

Tränen für Knut

«Tiere erscheinen medial entweder im Jöö-Kontext oder in Zusammenhang mit einem Skandal in einem Schlachthof», sagt ­Goetschel und spricht damit die Einzelschicksale von Tieren an, die mediale Aufmerksamkeit erregen. Sei es der Tod von Eisbär Knut im Berliner Zoo 2011, die Tötung der Giraffe Marius im Zoo von Kopenhagen 2014 oder eine der unzähligen Feuerwehr-Rettungen einer Katze von einem Baum. Tierphilosophisch betrachtet gibt es keinen Unterschied zwischen einem Schwein und einem Hund. Beide sind Geschöpfe mit Gefühlen und eigener Würde. In der Bibel bezeichnet sich der Mensch selbstherrlich als «Krone der Schöpfung». Spätestens seit Darwins Evolutionstheorie wissen wir aber: Auch der Mensch ist ein Tier, lediglich mit einem etwas grösseren Gehirn ausgestattet. Tiere bauen jedoch keine Häuser und Strassen, erfinden keine Unternehmen und Nationalstaaten. Im Gegenteil: Sie sind uns ausge­liefert, haben keine Stimme.

Ruck in der Debatte um Tierrechte

Immerhin gelten Tiere seit 2003 nicht mehr als Objekt. «Tiere sind keine Sachen», steht im Zivilgesetzbuch der Schweiz, deren Tierschutzgesetze zu den fortschrittlichsten weltweit gehören. Die Tiergesetze würden teilweise jedoch «zu lasch» umgesetzt, findet Anwalt Goetschel. Der Fall des Tierquälers von Hefenhofen könnte die Debatte um Tier­rechte neu ins Rollen bringen. Modern denkende Kantonstierärzte sind der Meinung, der Vollzug müsse verbessert werden.

In Schweizer Mastställen vegetieren eineinhalb Millionen Schweine in engen Räumen ohne Tageslicht vor sich hin. Aber wohl kein Lehrer der Schweiz besucht mit seinen Schülern einen Maststall oder Schlachthof. Weil man das den Kindern nicht zumuten will, schaut man sich lieber die putzigen Tiere hinter Gittern im Zoo an.

Die englische Buchautorin Louise Gray hat hinter die Kulissen der Massentierhaltung geschaut. Zwei Jahre lang besuchte sie Mästereien und Schlachthöfe. Weil sie trotzdem nicht auf Fleisch verzichten wollte, ging sie selber auf die Jagd und erlegte Hasen, Hirsche und Fasane. In ihrem Buch «Richtig Tiere essen?!» plädiert sie für einen bewussteren Fleischkonsum.

Immer mehr Menschen essen kein Fleisch mehr oder verzichten sogar ganz auf tierische Produkte. Obschon vegane Ernährung im Trend liegt, ernähren sich in der Schweiz lediglich 1,4 Prozent der Bevölkerung vegan. Die Fleischbranche muss also nicht um ihre Existenz bangen: Überall brutzeln Steaks auf dem Grill, wird der Fleischkonsum ­zelebriert. Noch immer müssen sich Vegetarier rechtfertigen. Fast niemand möchte einem Tier Leid zuführen, dennoch werden Milliarden Tiere geschlachtet. «Indirekt ist jeder Fleischesser ein Tierquäler», sagt Tierphilosoph Markus Wild. In der Psychologie spreche man vom «Fleischparadox».

Tierschützer bangen um ihren Ruf

Eine radikale Auffassung haben fundamentalistische Gruppierungen. 2009 zündeten Tier­befreier der «Militant Forces against Huntingdon Life Science» das Jagdhaus von Ex-­Novartis-Chef Daniel Vasella in Tirol an und schändeten das Grab seiner Eltern in Chur. Seither ­bemühen sich gemässigte Tierschützer um ihren Ruf. «Man kann nur ein ­guter Tierschützer sein, wenn man auch Menschen gern hat», sagt Maya Conoci, Geschäfts­führerin der Stiftung «Tier und Wir» für Ethik im Unterricht.

Die ehemalige Tierarztge­hilfin ist überzeugt: «Will man ­etwas für Tiere tun, muss man im Alltag verantwortungsvoller konsumieren. Sprich: Einen Zirkus ohne Wildtiere wie Tiger oder ­Löwen besuchen. Oder beim Kauf der Winterjacke darauf achten, dass sie nicht aus echtem Pelz ist.»

Der Fall Hefenhofen rüttelt wach. Nicht nur was die Tier­haltung der Landwirte anbelangt, sondern auch den persönlichen Umgang mit Tieren. Das beginnt damit, dass man beim nächsten Gang in den Supermarkt bewusster zum vakuumverpackten Mostbröckli greift.