TRINKEN: Es ist schwierig – nüchtern betrachtet

Als lobenswert gilt, wer nach der Fasnacht kurze Zeit Alkohol meidet. Unser Autor, ein Bayer, macht das seit 20 Jahren, weil er Wein, Bier & Co. einfach nicht mag. Doch immer trocken leben ist alles andere als einfach.

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Prost: Es geht auch ohne Alkohol, aber wer nichts trinkt, ist den Mitmenschen häufig höchst suspekt. (Bild: Getty)

Prost: Es geht auch ohne Alkohol, aber wer nichts trinkt, ist den Mitmenschen häufig höchst suspekt. (Bild: Getty)

Roman Deininger

Ich habe ein Alkoholproblem. Es gibt eine schöne Szene, die veranschaulicht mein Problem ganz gut. Die Szene wiederholt sich alle paar Jahre mit grosser Verlässlichkeit. Auf gewisse Weise wird sie jedes Mal schöner.

Ich komme mit dem Auto in eine Verkehrskontrolle. Bremsen, Fenster runter, der Polizist sagt: «Führerschein und Fahrzeugschein, bitte.» Bis dahin läuft es meistens recht gut. Dann fragt der Polizist: «Wann haben Sie zuletzt etwas getrunken?» Und ich sage: «Juni 1996.» Der Polizist sagt dann wirklich immer: «Mal aussteigen, bitte.»

Unangenehme Wahrheit

Wenn die Wahrheit ist, dass man keinen Alkohol trinkt, also keinen Schluck, und das seit Juni 1996 – dann kann diese Gesellschaft mit der Wahrheit nicht umgehen. Die Leute trinken, wenn es etwas zu feiern gibt, sie trinken, wenn es etwas zu trauern gibt, und sie trinken auch, wenn einfach mal gar nichts los ist. Was sich viele nicht vorstellen können: Mit dem Nicht-Trinken verhält es sich ganz genauso.

Wenn man Alkohol meidet, ist man oft eine ziemliche Enttäuschung für seine Mitmenschen. Gehen wir noch was trinken? Das klingt wie ein Versprechen. Gehen wir noch ein stilles Wasser trinken? Das klingt, als sollte man besser sofort nach Hause.

Enttäuschung ist gern an falsche Erwartung gekoppelt. Kommt man etwa, wie ich, aus Bayern, erwarten die Leute praktisch weltweit, dass man bestimmte Dinge gut findet, vor allem auch Bier. Das führt dazu, dass amerikanische Freunde durch halb Philadelphia fahren, um für den Gast eine Flasche Erdinger zu besorgen, zum Preis eines Volksfest-Fasses. Einem eigentlich harmlosen Satz wohnt dann gewaltige Grausamkeit inne: «Oh, danke, das ist sehr nett, aber ich bleibe beim Wasser.»

Der Satz verfehlt auch nie seine Wirkung, wenn irgendwer «eine gute Flasche Wein für eine besondere Gelegenheit aufgehoben» hat oder noch besser «für einen besonderen Menschen». Dann kann der Abstinente nur noch die Einnahme von Antibiotika vorschützen («Mandelentzündung») oder aus dem Klofenster flüchten.

Lauter Misstrauen

Die Enttäuschung hat einen noch viel heikleren Bruder, der ist das Misstrauen. Das Misstrauen begegnet einem überall, schwerpunktmässig aber bei Frauen und Politikern. Frauen vermuten sinistre Masterpläne, wenn sie beim Date irgendwann realisieren, dass sie gerade den dritten Weisswein kübeln und der Kerl das dritte Fanta. Politiker wittern durchtriebene Recherchemethoden, wenn ein Journalist sich abends an der Bar pegeltechnisch nicht um ein Gleichgewicht des Schreckens bemüht. Dann ist es noch gut gelaufen, wenn ein ehemaliger hochrangiger Politiker den Reporter beim nächsten Mal so vorstellt: «Trinkt nichts, sonst aber in Ordnung.»

Als Nicht-Trinker in die Medien zu gehen, ist in der Tat eine originelle Idee. Das weiss man, seit man als Hospitant bei einer grossen Tageszeitung, die nicht in München sitzt, den Feierabend-Schnaps verweigerte. «Saufen», riet einem da ein sehr erfahrener und sehr leitender Kollege, «sollten Sie in diesem Beruf aber schon können.» Das war übrigens nicht 1955, sondern 2005.

Aufpassen beim Anstossen

Es ist schon so: Wer nicht saufen kann, verkompliziert das Leben derer, die es können, und natürlich auch sein eigenes. Ständig muss man höllisch aufpassen, zum Beispiel, dass man beim Anstossen mit seinem klobigen Colaglas nicht die zarten Weinkelche der anderen zerdeppert. Oder dass man nicht als schrecklicher Geizkragen rüberkommt, wenn man die Rechnung mal nicht einfach durch vier teilen will – nur weil drei Leute Wein für 100 Euro hatten und einer Wasser für 5 Euro.

Mitleidige Blicke

Wer abends im Restaurant ein Wasser bestellt, den schauen die Kellner manchmal an, als hätte er gesagt: «Ich habe heute meinen Job verloren, und die Syphilis geht auch nicht weg.» Und Wasser ist ja noch vergleichsweise salonfähig. Ein Regionalbahnhof um Mitternacht, alle anderen haben ein Bier in der Hand, man selbst ein Fanta. Eine aparte Frau mittleren Alters nähert sich, man will jetzt grundsätzlich eher gewürdigt werden als missachtet. Die Frau fixiert die Flasche, ungläubig, belustigt. Im Vorbeigehen guckt sie einen unverschämt mitleidig an, und man fühlt sich genötigt zu rufen: «Man wird doch auch als erwachsener Mann mal ein Fanta trinken dürfen!» Die Frau dreht sich um, leider tut sie das mit einer Grandezza, als wäre das jetzt ein Filmset und sie der Star, und sie sagt: «Darf man nicht.»

Dramatisch muss es klingen

Natürlich darf man, Madame, aber es gibt schon eine ernste Frage, die allzeit im Raum steht wie ein fetter Riesenelefant in einer dieser Fotokabinen: warum? Warum trinkst du nichts? Die Erfahrung zeigt: je dramatischer die Antwort, desto grösser das Verständnis. Einer der herrlichsten Aspekte des Abstinentenlebens ist, sich immer neue Suchtgeschichten auszudenken: In der Entzugsklinik jeden Tag acht Schachteln Mon Chérie gefressen, im Drogeriemarkt Rasierwasser geklaut und auf Ex ausgesoffen, jetzt endlich trocken. Das akzeptieren die Leute, notfalls auch, dass Alkohol schlecht für die Haut ist. Was sie eher nicht so akzeptieren, ist die Wahrheit: Mir schmeckt einfach nichts, kein Bier, kein Wein, kein Schnaps. Das reicht den Leuten nicht, sie sagen: «Irgendwas Religiöses? Du musst nicht drüber reden.»

Die Wahrheit zu sagen, ist strategisch eh unklug. Wenn einem kein alkoholisches Getränk schmeckt, ist es ja leicht, nichts zu trinken, unfassbar leicht. Das kann sich nur keiner vorstellen: freiwillig Fanta! Deshalb gibt es das wundervolle und gerade bei Frauen verbreitete Missverständnis, man müsse ein sehr, sehr starker Mensch sein, um enthaltsam zu leben. Manchmal muss man ein Missverständnis auch einfach stehen lassen können.

Anerkennung nur als Chauffeur

Gesellschaftliche Anerkennung kann sich der Nicht-Trinker sonst bloss noch als Chauffeur vollbedudelter Begleiter verdienen; die Beförderungsbereitschaft – das nur als Tipp für interessierte Passagiere – leidet jedoch, wenn der Gefallen allzu offensiv eingefordert wird: «Müssen wir jetzt echt ein Taxi nehmen, oder kann noch jemand fahren?»

Das Alkoholproblem von Nicht-Trinkern ist ein Imageproblem. Gut, man kann darauf verweisen, dass auch Donald Trump, Kim Kardashian und Oliver Pocher keinen Tropfen anrühren, aber so richtig bringt einen das auch nicht aus der Defensive.

Dabei ist es durchaus eine Leistung des Abstinenten, seine Umwelt und seine Mitmenschen ohne Alkohol zu ertragen. Besucht man eine Nachtlesung alternativer Wiener Lyriker in einem notdürftig ausgeräumten Müllkeller, nimmt man im Gegensatz zu absolut allen anderen Anwesenden sowohl den bestialischen Müllgestank als auch die nicht minder abscheuliche Lyrik in ganzer Tiefe wahr.

Immerhin: Im Laufe einer Asketen-Karriere hat man gelernt, sich von Zusammenrottungen fernzuhalten, die allein die schnellstmögliche Herbeiführung eines Vollrauschs zum Ziel haben. Mit dem Wissen von heute würde man also vielleicht nicht mehr alles einfach mitmachen. Genau wie man inzwischen ein Gespür entwickelt hat, wann man zwischen «Goldener Bar» und seinem Holy Home diskret zum Velo abbiegen sollte. Ab und an verlässt einen das Gespür aber auch: Man wäre einst natürlich nicht vor angezwitscherten Liberalen aus der Bar des Stuttgarter Maritim-Hotels geflohen, hätte man geahnt, dass FPD-Spitzenmann Rainer Brüderle gleich über das Dekolleté einer Journalistenkollegin referiert und so für einige Schlagzeilen sorgt.

Im Epizentrum des Suffs

Häufig spricht also doch viel für Dabeibleiben. Die Täuschung ist da ein gutes Mittel, das eigene Vergnügen zu erhöhen und zugleich das Misstrauen der Trinker zu überwinden: einfach so tun, als wäre man selbst so was von besoffen. Das klappt sogar im Epizentrum des Suffes, in einem Bierzelt auf dem Oktoberfest. Spätestens von 20 Uhr an sind alle anderen eh derart hinüber, dass eine Mass Apfelschorle als Bier durchgeht. Ab 22 Uhr kommt man sogar mit einer Mass Spezi durch. «Was saffst na da?», fragt der Banknachbar. «Des is a Dunkles», behauptet man listig. «Eam schaug da o, der safft an Superbock», plärrt der Nachbar dann respektvoll über den Tisch. Die ganz hohe Kunst ist es, dieses Ding mit Kamillentee durchzuziehen, aber das hat ausser Edmund Stoiber noch keiner gebracht.

Das Leben als Schauspiel begreifen

Erste kleine Weisheit nach zwei Jahrzehnten ohne Alkohol: Man muss das Leben als grosses Schauspiel begreifen. Natürlich gewinnt kein Gespräch ernsthaft an Niveau (höchstens an Offenheit) dadurch, dass einer oder mehrere Teilnehmer angesoffen sind, auch wenn das jenen Teilnehmern immer exakt so vorkommt. Aber der Unterhaltungswert wächst für beide Seiten, wenn man sich furchtlos und schmerzfrei auf den Debattenton einlässt. Schreit einem ein Betrunkener «Alter, geiler Abend!» ins Ohr, empfiehlt es sich, im Gegenzug nicht die unerforschten Potenziale des Abends zu analysieren, sondern zurückzubrüllen: «Leck mich, Alter, so was von geil!» Bestenfalls entfalten Gespräche mit Betrunkenen dann eine ganz eigene Poesie.

Das perfekte Lallen üben

Erfüllend ist es im Rahmen der Täuschungsstrategie auch, über die Jahre an seinem Lallen zu arbeiten, die Zungenbewegungen zu automatisieren und dann bei einer mässig besinnlichen Weihnachtsfeier zu merken: Das ist es jetzt, das perfekte Lallen. Häkchen drunter! Handwerklich hilfreich ist dabei der Kollektivrausch, der auch den Nüchternen erfasst. Das Phänomen lässt sich wissenschaftlich mit einem Foto von mir beim «Fliegerlied» auf der Wiesn belegen, einem Zeitdokument, von dem ich mir sehr wünschte, man könnte es mit Alkohol erklären.

Ach, die Welt ist wahrlich keine grauere, nur weil man sie strohtrocken durchschreitet. Nüchternheit sollte halt nur nicht heissen, im sinnlosen Betrinken anderer plötzlich den Sinn zu vermissen. Nüchternheit sollte auch nicht heissen, den Morgen zwanghaft mehr zu ehren als die Nacht. Nüchternheit sollte schon gar nicht heissen, in Sorge und Bevormundung zu verfallen, bloss weil sternhageldichte Freunde nachts über einen enorm hohen Zaun in ein Fussballstadion einsteigen. Nüchternheit darf dann jedoch ruhig heissen, die Freunde davon abzuhalten, mit dem Rasenmähtraktor heimzutuckern.

Nicht den Missionar mimen

Zweite kleine Weisheit: Man muss in jeder Sekunde dem Argwohn entgegenwirken, man könnte ein Missionar der Enthaltsamkeit sein. Wenn jemand den Rausch feiert, dann feiert man halt mit! Nimmt den Rausch hin als der Nüchternheit gleichwertiges Konzept, das Leben im Vollen zu erfahren.

Wenn einem also durch den Kopf geht, dass der Literatengeselle dort drüben an der Bar zwar niemals Bücher schreiben wird wie Charles Bukowski und niemals Frauen kriegen wird wie Serge Gainsbourg, aber offenbar wenigstens so saufen will wie die beiden – dann behält man diesen wertvollen Gedanken einfach für sich. Überhaupt, Sachen für sich behalten: ganz wichtig! Trinker meinen am Morgen danach ja immer, man hätte irgendetwas gesehen oder gehört, das besser ungesehen oder ungehört geblieben wäre. Allermeistens stimmt das nicht mal.

Eine auf Wasser und Fanta basierende Existenz hat schon ihre Vorteile, nicht zuletzt den, sicher zu wissen, dass Alkohol weder Ursache noch Lösung irgendeines Problems ist. Man ist morgens fitter als andere und deutlich besser informiert; man ist – im Gegensatz zu Bekannten – nie mit einer Frau zusammen, die man nur betrunken erträgt. Und man fragt sich – im Gegensatz zu anderen Bekannten – am Neujahrsmorgen nie, woher zum Teufel diese Fleischwunde an der linken Wade kommt.

0,0 Promille fordern Polizei heraus

Trotzdem, ein Alkoholproblem lässt sich nicht komplett schönreden. Bei der Verkehrskontrolle stellt die Polizei zwar immer recht zügig fest, dass promillemässig echt nichts zu holen ist. Aber das weckt erst den Ermittlerehrgeiz. Die Beamten ermitteln dann, ob man so ­völlig frei von Alkoholeinfluss ein Warndreieck «standsicher» aufstellen kann (2011), oder ermahnen einen nachdrücklich, die in vier Jahren ablaufenden Mullbinden aus dem Erste-Hilfe-Kasten rechtzeitig auszutauschen (2007). Die Strassen werden nicht sicherer, wenn stocknüchterne Typen mit rapide alternden Stoffwickeln im Kofferraum spazieren fahren!

Wenn einer mal einen Abend nichts trinkt – dann ist das vorbildlich. Wenn einer gar nichts trinkt, an allen Abenden seit Juni 1996 – dann ist das nicht nur Polizisten irgendwie verdächtig.