Der weisse Tod sucht Diemtigtal heim

Zwei Lawinen töten im Berner Oberland wahrscheinlich sieben Personen -- ein Tal leidet.

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Der weisse Tod im Diemtigtal

Der weisse Tod im Diemtigtal

Benno Tuchschmid, Diemtigtal

Ein Rega-Helikopter fliegt durch dichtes Schneegestöber das Diemtigtal hoch. Die Nebeldecke liegt tief über dem Tal. Der Helikopter entschwindet im milchigen Nebel Richtung Unfallgebiet Chummli. Doch schon kurze Zeit später kehrt er wieder zurück. An Bord die dreiköpfige Besatzung und schlechte Nachrichten. Das Wetter ist zu gefährlich, um zu fliegen. Die Rettung kann nicht fortgesetzt werden.

Vier Tote, darunter ein Rega-Arzt, drei Vermisste, für die so gut wie keine Hoffnung auf Rettung mehr besteht: Das ist die schreckliche Bilanz zwei Tage nach einem der schwersten Lawinenunglücke der letzten zwanzig Jahre. Und es passierte ausgerechnet im Diemtigtal, einem Tal, das unter Ski-tourenfahrern beliebt war, im Gebiet Chummli, das als lawinensicher galt. Auf der Grimmialp, die ganz in der Nähe des Unglücksortes liegt, schüttelt die Verkäuferin im Skischulbüro Erb Sport den Kopf: «Tragisch, wirklich tragisch, und es musste auch noch ein völlig Unschuldiger sterben.» Vor dem Büro schnallen sich deutsche Winter-touristen lachend die Ski an die Füsse und setzen ihren Kindern die Helme auf. Im Büro ist von Fröhlichkeit wenig zu spüren. «Es gibt nicht viele Lawinen hier oben, aber am Sonntag hatte es bis auf 2000 Meter geregnet», sagt die Verkäuferin. «Das sind ganz schlechte Bedingungen für eine Skitour.»

Trotzdem hatte es am Sonntag viele Tourenskifahrer im Gebiet unterhalb des Dreimännlers. Mindestens 35. Wahrscheinlich zu viele. Theo Maurer, Chef Ausbildung bei der Alpinen Rettung Schweiz, sagt dazu: «Auch bei mässiger Lawinengefahr ist durch hohe Belastung eine Auslösung möglich – und sie haben gehört, wie viele Leute im Gebiet waren.»

Kurz nach halb zwölf gerieten am Sonntag zwei Tourengänger einer achtköpfigen internationalen Gruppe in ein Schneebrett. Eine 27-köpfige Tourengruppe des Skiclubs Rubigen beobachtete den Niedergang. Drei Mitglieder des Skiclubs fuhren sofort auf den Lawinenkegel und begannen, nach den Verschütteten zu suchen. Ein alarmierter Rega-Helikopter seilte kurze Zeit später einen Notarzt auf den Unfallort ab. Dann geschah es. Im Hang löste sich eine zweite Lawine. Sie begrub die achtköpfige Tourengruppe, die drei Skiclub-Mitglieder und den Rega-Arzt unter sich. Wenn nicht noch ein Wunder passiert, werden von den zwölf Verschütteten nur gerade fünf überleben.

In Oey, dem Hauptort des Diemtigtals, steht Heidi Hagen an der Hauptstrasse und sagt: «An diesem Unglück haben hier viele zu beissen.» Eine, die sichtlich daran zu beissen hat, ist Susanne Zysset, die in Oey mit ihrem Mann den Volg betreibt. Als sie nach dem Unglück gefragt wird, verdüstert sich ihre Miene. «Erst der ‹Lothar›, dann die schweren Überschwemmungen, jetzt das. Unser Tal wird schwer geprüft», sagt Zysset. Sie kennt Menschen, ausgebildete Helfer, die am Sonntag ins Lawinengebiet geflogen wurden, um nach den Opfern zu suchen. «Zwei von der Gschwend flogen gerade mit dem Heli zur Lawine hin, als das zweite Brett runterging. Sie mussten zuschauen, wie die Leute verschüttet wurden.» Sie zeigt auf ihre Kasse. «Sehen Sie, jetzt habe ich Ihr Weggli zweimal getippt.» Sie sei total durcheinander, sagt Zysset.

Ob sie den Tourenfahrern schuld gibt am Tod des Rega-Arztes? Dazu möchte Zysset lieber nichts sagen. Eigentlich möchte dazu niemand etwas sagen. Verständlich, denn die Tourenfahrer kommen gern und oft und bringen Umsatz. Zudem gehen auch viele Einheimische auf Skitouren. Es ist schwierig, einen Schuldigen zu benennen. Ist vielleicht das Lawinenbulletin schuld, das am Sonntag in dem Gebiet nur von einer mässigen, also einer eher beschränkten Lawinengefahr ausging? «Hören Sie, so etwas muss man immer vor Ort beurteilen» sagt eine Frau in der Post von Oey, sie stempelt gerade Briefe. Die Tourengänger hätten das Gebiet wahrscheinlich nicht gekannt, sagt sie weiter. Tatsächlich bestätigt Otto von Allmen, Chef der Kantonspolizei Bern im Oberland, dass die achtköpfige Gruppe international durchmischt war. Unter den Todesopfern ist auch ein Deutscher. Doch Wut verspürt auch die Frau in der Post keine. «Frust, ich verspüre eine grosse Frustration, dass so viele Menschen sterben mussten.»