Bei einem Nein zur 100-Franken-Vignette könnte der Benzinpreis pro Liter um bis zu 9 Rappen steigen. Das lässt der Bundesrat nun durchblicken – und verärgert nicht nur die Vignettengegner.
Kurz vor dem Abstimmungssonntag fasst der Bundesrat ein heisses Eisen an: Wird die 100-Franken-Vignette vom Stimmvolk abgelehnt, könnte ein Aufpreis beim Benzin von bis zu 9 Rappen pro Liter drohen. Dies lässt der Bundesrat in seiner Antwort auf eine Interpellation des Luzerner CVP-Ständerats Konrad Graber durchblicken.
Die Rechnung sieht so aus: Mit dem Vignettenaufpreis will der Bund jährlich 300 Millionen Franken mehr einnehmen, um rund 400 Kilometer Kantonsstrassen ins Nationalstrassennetz übernehmen zu können und um Strassenbauprojekte zu finanzieren. Bleiben diese Mehreinnahmen aus, müsste das Geld anderweitig beschafft werden – etwa über eine Erhöhung der Mineralölsteuer und des Mineralölsteuerzuschlags. Bundesrätin Doris Leuthard hatte bislang jeweils vorgerechnet, dass sich daraus ein Aufpreis von 6 Rappen pro Liter Benzin ergebe.
Nun aber buchstabiert der Bundesrat neu. Von den Einnahmen durch die Mineralölsteuer und den Mineralölsteuerzuschlag fliessen nämlich 10 Prozent an die Kantone ab. Diese müssen das Geld für ihre eigenen Strassenaufgaben nutzen. Hinzu kommt der Bundesbeschluss vom 20. Juni 2013 über die Finanzierung und den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur (Fabi), über den das Volk im kommenden Februar abstimmt. Gemäss Fabi-Vorlage sollen künftig weitere 9 Prozent aus der Mineralölsteuer und dem Mineralölsteuerzuschlag in den öffentlichen Verkehr fliessen. Damit man trotz dieser Abgaben auf jährliche Mehreinnahmen von 300 Millionen Franken kommt, müssten durch Mineralölsteuer und -zuschlag also nicht 300, sondern 370 Millionen Franken jährlich eingenommen werden. Auf den Liter Benzin heruntergerechnet, ergibt das einen Aufpreis von 8 bis 9 Rappen, wie der Bundesrat in seiner Antwort vorrechnet.
«Das zeigt die Krux, die in dieser Frage liegt, und welches Ausmass ein Nein zur Vignettenpreiserhöhung hätte», sagt Konrad Graber. Die Rechnung werde durch verbrauchsarme Fahrzeuge immer defizitärer, irgendwie müsse man die Strasseninfrastruktur aber finanzieren. Graber moniert die Antihaltung zum Vignettenaufpreis der Automobilistenverbände: «Ich glaube nicht, dass sie bei einem Nein zur 100-Franken-Vignette einer zweitklassigen Lösung mit erhöhten Benzinpreisen zustimmen werden – das ist ein sensibles Thema.» Zweitklassig im Gegensatz zur teureren Vignette, so führt Graber aus, sei die Benzinpreiserhöhung etwa, «weil Ausländer mit einem vollen Tank durch die Schweiz hindurchfahren können, ohne sich an der Finanzierung der Strasse zu beteiligen». Hinzu kommt, dass im Zusammenhang mit dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds (NAF) mittelfristig eine weitere Treibstoffpreiserhöhung zur Diskussion steht – diese könnte sich auf 12 bis 15 Rappen pro Liter belaufen.
Beim Uvek ruft man auf Anfrage in Erinnerung, dass die Variante einer Benzinpreiserhöhung zur Finanzierung des Netzbeschlusses angeschaut, zu Gunsten der Vignettenpreiserhöhung jedoch sowohl vom Bundesrat als auch vom Parlament verworfen wurde. Wie aus der Antwort des Bundesrates hervorgeht, ist dieser weiterhin überzeugt, dass bei einem Nein am Sonntag die Anpassung des Netzbeschlusses nicht in Kraft treten wird, der Bund also nicht 400 Kilometer Kantonsstrassen ins Nationalstrassennetz übernehmen wird. Graber hält von dieser Antwort wenig: «Sie greift zu kurz – ich bin überzeugt, dass die Kantone politisch grossen Druck machen werden, damit der Netzbeschluss trotzdem kommt.» Auch fordert eine parlamentarische Initiative von Nationalrat Felix Müri (SVP, Emmen), dass der Netzbeschluss unabhängig von der Abstimmung am Sonntag in Kraft tritt.
Graber ist mit den Antworten des Bundesrats generell nicht zufrieden: «Der Bundesrat hat es verpasst, den ausgelegten Teppich zu beschreiten.» So wollte Graber in seiner Interpellation auch wissen, inwieweit sich das gesamte Schweizer Strassennetz tatsächlich selber finanziert. Die Antwort des Bundesrats: «Zurzeit stehen keine ausreichenden statistischen Grundlagen zur Verfügung, um einen Kostendeckungsgrad für die Strasseninfrastruktur (...) zu berechnen.» Graber dazu: «Der Bundesrat macht es sich etwas gar einfach.» Er habe sich im Hinblick auf die Abstimmung eine Gesamtrechnung erhofft. «Die Vignettengegner argumentieren immer, dass sich die Strasse zu 100 Prozent selber finanziere, was aber sicher nicht auf die Kantons- und Gemeindestrassen zutrifft, die einen Grossteil des gesamten Strassennetzes ausmachen», sagt Graber und moniert: «Der Bundesrat hätte wenigstens eine Schätzung präsentieren können.»
Für den Verkehrspolitiker ist ganz klar, dass die Frage des Kostendeckungsgrades die Politik noch länger beschäftigen wird. «Ich werde nach der Abstimmung zur Vignette beim Bundesrat noch einmal nachhaken.» Wichtig sei diese Frage auch hinsichtlich des NAF und der Milchkuhinitiative, erklärt Graber weiter. «Nach der Abstimmung müssen wir in der Verkehrskommission eine Auslegeordnung machen.» Bei einem Nein zur 100-Franken-Vignette brauche es womöglich eine komplette Neuorientierung beim NAF: «Die Automobilistenverbände riskieren hier eine Totgeburt – man kann ja kein neues Kässeli machen, ohne Geld hineinzulegen.»
Dem stimmt der Gegner der Vignettenpreiserhöhung Felix Müri in keiner Weise zu: «Im Gegenteil – mit einem Nein muss der Bundesrat über die Bücher, und das ist auch bitter nötig, wie der aktuelle Diskurs zeigt.» Müri ist überzeugt, dass die Strasse sich auch auf Kantons- und Gemeindeebene selber finanziert. «Sogar vom LSVA werden schliesslich Gelder zweckentfremdet.» So hoffe er auf die Milchkuhinitiative, welche verlangt, dass neu alle Erträge von der Strasse zweckgebunden verwendet werden. Heute fliesst davon rund die Hälfte in die Bundeskasse. «Ich bin nicht dagegen, dass ein Teil zweckentfremdet wird, etwa um den öffentlichen Verkehr zu subventionieren», sagt Müri zwar, fordert aber eine Gesamtschau: «Der Bundesrat muss den Anteil, der zweckentfremdet wird, überdenken und aufzeigen, wo das Geld anderswo eingespart werden könnte. Nur so können längerfristig die Verkehrsprobleme in den Griff bekommen werden.»
Zur neuen Rechnung des Bundesrats mit 9 Rappen Preiserhöhung pro Liter Benzin sagt Müri: «Das ist reine Angstmacherei so kurz vor der Abstimmung.»