Fast 75 Prozent der Schweizer Stimmbürger würden der Pädophileninitiative zustimmen. Diese habe aber enorme Fehler, sagt der Strafrechtler Martin Killias.
Martin Killias, was halten Sie als Strafrechtsexperte von der Initiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen»?
Martin Killias*: Ich finde es unverständlich und ehrlich gesagt auch unverzeihlich, dass das Komitee die Initiative nicht zurückgezogen hat.
Warum?
Killias: Die Initiative war bereits extrem erfolgreich und hat viel bewirkt. Das Parlament hat schnell geschaltet und mit der Gesetzesvorlage des Bundesrats 99 Prozent der guten Anliegen der Initiative übernommen. Der Unterschied zwischen Gesetzesvorlage und Initiative ist, dass die gefährlichen Fallgruben eliminiert wurden. Er ist nur in einem Bereich sanfter, weil er anstatt eines lebenslänglichen grundsätzlich ein zehnjähriges Berufsverbot vorsieht, das verlängert werden kann. Obwohl lebenslängliche Berufsverbote auch mit der Gesetzesvorlage möglich sind.
Die Anliegen der Initianten würden Ihrer Meinung nach erfüllt.
Killias: Ja. Es macht keinen Sinn, auf der Initiative zu beharren. Der Gegenvorschlag ist besser. Die Initiative beschränkt sich auf Berufsverbote nur bei Sexualdelikten gegen Kinder. Im Gegenvorschlag sind auch Verbote bei schwerer Vernachlässigung oder Gewalt möglich. Und im Initiativtext hat es ein paar ganz grosse Böcke. Es trifft vor allem die Falschen.
Wen?
Killias: Hauptsächlich Jugendliche. Der Initiativtext sagt klar: «Personen, die verurteilt werden, weil sie die sexuelle Unversehrtheit eines Kindes ( ...) beeinträchtigt haben, verlieren endgültig das Recht, eine berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit mit Minderjährigen oder Abhängigen auszuüben.» Das trifft primär Teenager. Die Öffentlichkeit hat hier ganz falsche Vorstellungen von einer Mehrheit alter grausamer Männer als Täter. Haupttäter bei Sexualdelikten mit Kindern, also bis 16 Jahre, sind Jugendliche, die leicht älter oder fast gleich alt sind. 85 Prozent der Täter fallen nach einer aktuellen Studie in diese Kategorie.
Das Komitee argumentiert, dass man in der Ausarbeitung des Gesetzestexts oder der Verordnung diese Fälle berücksichtigen könne, damit zum Beispiel die Jugendliebe zwischen einer 17- und einem 15-Jährigen kein lebenslanges Berufsverbot mit sich bringt.
Killias: Das ist eine naive und gefährliche Sicht, die nicht mit der strafrechtlichen Realität Schritt hält. Es gibt hier ein sehr gutes Beispiel: Kinderpornografie.
Wie bitte?
Killias: Mit dem Handyboom und der Tendenz von Jugendlichen, sich selbst nackt zu fotografieren oder sich beim Masturbieren zu fotografieren, sind die meisten wegen Kinderpornografie verurteilten Jugendliche, die sich selbst oder den Partner fotografiert haben. Mir ist ein Fall von einem 15-jährigen Mädchen bekannt, das von sich selbst ein Bild gemacht hat, wie es masturbiert. Das Bild schickte sie an den Freund, und es landete irgendwie auf Facebook. Das Mädchen ging mit seinen Eltern zur Polizei.
Und wurde selbst angezeigt?
Killias: Rechtlich ist der Fall eindeutig. Das Mädchen ist 15, damit ein Kind, und machte sich mit dem Foto wegen Herstellung von Kinderpornografie strafbar, der Freund wegen des Besitzes. Nach der Pädophileninitiative könnte es deswegen nie als Kinderkrankenschwester oder Lehrerin arbeiten. Es wäre lebenslang ausgeschlossen wegen einer Dummheit. Es gibt weitere problematische Fälle.
Zum Beispiel?
Killias: Ich habe von einer Geschichte vernommen, wo eine 19-Jährige ein Konfirmationslager begleitet hat. Dabei ist sie einem über 16-Jährigen nähergekommen. Es kam zwar nicht zu Sex. Das ist im Prinzip eine schwierige Situation in einem Abhängigkeitsverhältnis. Da im Initiativtext auch Missbrauch mit abhängigen Personen einbezogen ist, würde diese junge Frau ein lebenslanges Berufsverbot erhalten. Wie ist es mit Lehrlingen? Die sind im Betrieb ebenfalls in Abhängigkeitsverhältnissen und das meist, bis sie 18 sind. Wenn sich ein 20-jähriger Angestellter bei der Betreuung von Lehrlingen mit einer 17-Jährigen einlässt, geht man vor Gericht meist von der Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses aus, selbst wenn es einvernehmlich ist.
Sie vertrauen den Politikern nicht, dass bei der Umsetzung solche Fälle ausgeschlossen werden?
Killias: Wenn Politiker behaupten, die Probleme mit diesen Exzessen könne man lösen, warum haben sie mit dem beschriebenen Problem der Kinderpornografie nichts gemacht? Das Problem, dass vor allem Jugendliche wegen Kinderpornografie verurteilt werden, ist bekannt und verschärft sich laufend. Weder Politiker noch Justizämter haben etwas unternommen. Darum ist es eine realistische Einschätzung, dass mit der Initiative ein grosser Teil der Betroffenen vom lebenslangen Berufsverbot Jugendliche sein werden.
Wussten die Initianten von diesen Fallstricken?
Killias: Sie wurden im Vorfeld darauf aufmerksam gemacht. Dann haben die Initianten beschlossen, dieses Risiko bewusst in Kauf zu nehmen, obwohl ein sehr guter indirekter Gesetzesvorschlag bereitsteht. Ich finde es empörend, dass man wider besseres Wissen daran festhält, um das Thema zu bewirtschaften.
Wie eliminiert der Gesetzesvorschlag das Problem, dass die Falschen getroffen werden?
Killias: Ich finde die Parlamentsvorlage weitaus besser. Gemäss dem Gesetzestext wird das Berufsverbot erst verhängt, wenn ein Gericht eine Haftstrafe von im Minimum sechs Monaten verhängt. Damit kann man die vorher beschriebenen Fälle elegant aussparen. Kein Richter wird für einvernehmlichen sexuellen Kontakt zwischen einem 19- und einer 15-Jährigen eine so lange Freiheitsstrafe erteilen.
* Martin Killias (66) ist emeritierter Professor für Straf- und Strafprozessrecht der Universität Zürich. Seit 2013 ist er ständiger Gastprofessor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen.