Seit Frühling läuft die Unterschriftensammlung für die Justiz-Initiative. Gemäss dieser sollen Bundesrichter in Zukunft per Losentscheid gewählt werden. Architekt und Financier ist der Zuger Unternehmer Adrian Gasser.
Der 75-Jährige Adrian Gasser sitzt entspannt in der Lobbybar des Luzerner Hotels Schweizerhof. Er ist zuvorkommend, wirkt vergnügt und in sich ruhend. Das Image des aufbrausenden und keinem Konflikt ausweichenden «Anarchopatrons» – so wurde er jüngst in einem Artikel des «Tages-Anzeiger» genannt – passt irgendwie nicht zu diesem Auftreten. Begegnet man dem Wahl-Obwaldner aber zu einem Gespräch über die von ihm angestossene Justiz-Initiative, merkt man schnell, wie viel Leidenschaft staatspolitische Themen in ihm wecken. Ganz besonders wichtig ist ihm dabei das Prinzip der Gewaltentrennung, das er in der Schweiz im Ungleichgewicht sieht.
«Ohne vollständig unabhängige Justiz gibt es auch keine funktionierende Demokratie», sagt Gasser. Da die Schweizer Bundesrichter von der Bundesversammlung gewählt würden und de facto allesamt einer Partei angehören müssten, seien sie Teil der «classe politique», so Gasser. Beim Aussprechen dieses Begriffs fügt er sofort an: «Diese ist an sich nichts Schlimmes, aber die Justiz sollte von politischen Prozessen der Legislative und Exekutive strengstens getrennt werden.» Und schon ist man mittendrin in einer philosophisch-politischen Diskussion. Gasser ist in seinem Element. In schneller Abfolge kommen Themen wie Gewaltentrennung, Funktion und Wesen von Machtausübung oder sogar die Wahlen im antiken Griechenland zur Sprache. Man wägt sich fast in einem Politikwissenschaftsseminar.
Die diesen Mai lancierte Justiz-Initiative war dem Unternehmer schon lange ein Anliegen. Bereits in den 80er-Jahren ging ihm ein solches Vorhaben durch den Kopf. Doch erst jetzt erlauben es ihm die Lebensumstände, es zusammen mit weiteren zehn Personen im Initiativkomitee auch umzusetzen. «So etwas muss seriös angegangen werden. Das braucht Zeit und Geld», sagt Gasser. Beides hat der Unternehmer zur Genüge. Gasser geht seinen Alltag im achten Lebensjahrzehnt etwas gemächlicher an. Auf ungefähr eine Million Franken schätzt er seine persönlichen Aufwendungen, um die Initiative zu lancieren und die nötigen 100000 Unterschriften zu sammeln. Er wird auch nicht davor zurückschrecken, etwas mehr beizusteuern, sofern es die Umstände erfordern sollten.
«Wir Schweizer sollten uns der Illusion berauben, überall die Besten zu sein.»
Bei der Frage der Motivation holt Gasser aus, seine konziliant anmutende Zurückhaltung zu Beginn weicht beinahe missionarischem Eifer. «Wir Schweizer sollten uns der Illusion berauben, überall die Besten zu sein. Das ist anmassend und eingebildet.» Die Gewaltentrennung sei hierzulande in der jetzigen Form der Richterwahl nicht gegeben. Das sei keine perfekte Demokratie, obwohl viele so stolz auf sie seien. Persönliche Rachegelüste gegen das Justizwesen und die Richter seien es aber nicht, die ihn antreiben, das will Gasser betonen. Genug Gründe für solche Gefühle hätte er, denn in Gerichtsprozesse war der Unternehmer schon oft verwickelt, als Kläger wie als Angeklagter.
Ein aufsehenerregender, von den Medien intensiv begleiteter Prozess um Gasser fand 1994 statt, als er die Angestellten seiner Spinnerei in Kollbrunn bei Winterthur nach einem Warnstreik entliess. Die zuständige Gewerkschaft liess das nicht auf sich sitzen. Gasser kam schweizweit in den Schlagzeilen. Fünf Jahre später hat das Bundesgericht im Falle Kollbrunn zum allerersten Mal ein Streikrecht befürwortet. Gasser liess in seinen zahlreichen Prozessen viel Geld und Energie liegen. Verlässliche Beträge kann er dabei nicht nennen, aber er sagt: «Ich bin vielleicht der Einzige in der Schweiz, der es fertiggebracht hat, wirklich alle mal gegen sich aufgebracht zu haben.» Man weiss nicht so recht, ob er das nun als Ehre betrachtet oder es selbstkritisch mit einem Hauch Ironie versteht. Vielleicht ja beides.
Gasser eckte oft an – mit seiner forschen Art, seiner Firmenpolitik. Er galt als unbequemer, streitlustiger Patron und als Journalisten- sowie Gewerkschafterschreck. Seine Karriere begann Anfang der 60er-Jahre bei der Schweizerischen Revisionsgesellschaft – mit nur 18 Jahren. 1963 ging er als Wirtschaftsprüfer nach Paris und lernte eine neue Welt kennen. Eine, durch die er seine Heimat in einem neuen Licht zu sehen begann. Hier traf er jüdische Erben von Holocaust-Opfern, die wussten, dass geraubtes Gold in Schweizer Schliessfächern liegt. Dieses Unrecht sensibilisierte Gasser für die dunklen Seiten der Schweiz und ihrer Geschichte. Mitte der 70er-Jahre kam er in seine Heimat zurück und wurde Unternehmer in der Textil- und Maschinenbauindustrie. Heute umfasst das Tätigkeitsfeld seiner Lorze-Gruppe mit Sitz in Zug, die er 1991 übernahm, unter anderem Immobilienentwicklung, Maschinenindustrie und Hotellerie.
Bei aller Lust an der Diskussion um die Schweizer Demokratie, der Kritik um ihre Unzulänglichkeiten und seiner Entrüstung über die Bundesrichterwahl bleibt Gasser im Gespräch stets relativierend. Gegenüber der besagten «classe politique» spielt er sich nicht als Polterer auf. Zweimal hat er sich selbst als Unabhängiger um ein politisches Amt beworben. Für den Kanton Thurgau wollte er 1987 in den National- und 1999 in den Ständerat. «Beim zweiten Versuch erhielt ich immerhin elf Prozent der Stimmen», erklärt er nicht ganz ohne Stolz. Er habe nichts gegen den Staat und die Politik, sei kein Superliberaler. Klar einordnen mag er sich im Parteienspektrum nicht. Und seine Informationen sucht er sich täglich über die bürgerliche NZZ genauso zusammen wie über die linke WOZ. «Ich weiss eigentlich gar nicht, ob ich nun ein Kapitalist oder nicht doch ein Sozi bin.»
Gasser und seine Mitstreiter haben noch rund ein Jahr Zeit, um die Unterschriften für die Justiz-Initiative einzureichen. Bis dahin ist es dem Unternehmer wichtig, «dass über das Thema gesprochen und gestritten wird». Bei diesem Satz schleicht sich ein Hauch von rauschhaftem Enthusiasmus in Gassers Stimme. Hier kommt er wieder durch: der Eifer, das Sendungsbewusstsein. Und doch folgt die Milde auf den Fuss: Einem Kompromiss in Form eines Gegenvorschlags stehe er durchaus offen gegenüber. Wie der aussehen könnte, werde sich dann ja zeigen.
Aktuell gehören alle in Amt und Würden stehenden, rund 40 vollamtlichen Bundesrichter einer Partei an. Die Vereinigte Bundesversammlung nimmt bei deren Wahl «freiwillig Rücksicht auf die Proporzansprüche der grossen politischen Parteien», wie beim Bundesgericht nachzulesen ist. Solch ein Vorgang ist – vor allem auch im internationalen Vergleich – nichts Ungewöhnliches. Die Justiz-Initiative will das heutige System dennoch ändern. Demnach soll eine vom Bundesrat eingesetzte Fachkommission die Qualifikation von Bewerbern für das Amt überprüfen. Diese dürften durchaus auch einer Partei angehören, es «soll aber in erster Linie um fachliche Kompetenz gehen», erklärt Adrian Gasser, die treibende Kraft hinter der Initiative. Danach wird gelost. Die Möglichkeit, einzelnen Kandidaten gezielt den Job als Richter am höchsten Schweizer Tribunal zu vermitteln, entfällt. «Das ist der Kern der Kampagne: Das Ende der Berechenbarkeit und politischen Einflussnahme», erklärt Gasser. (sw)