ASYL: «Die Flüchtlingskonvention hat Lücken»

Anja Klug, Schweizer UNHCR-Chefin, kritisiert die Schweizer Asylpraxis und fordert, dass mehr Syrer als Flüchtlinge anerkannt werden.

Interview Sermîn Faki
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Bilder wie dieses sind in den letzten Monaten traurig vertraut geworden: Flüchtlinge im Mittelmeer vor der Küste Libyens. Hier rüsten Rettungskräfte eine Gruppe mit Schwimmwesten aus. (Bild: AP/Gregorio Borgia)

Bilder wie dieses sind in den letzten Monaten traurig vertraut geworden: Flüchtlinge im Mittelmeer vor der Küste Libyens. Hier rüsten Rettungskräfte eine Gruppe mit Schwimmwesten aus. (Bild: AP/Gregorio Borgia)

Interview Sermîn Faki

Die SVP rüttelt am Flüchtlingsbegriff. So behauptet «Weltwoche»-Chefredaktor und Nationalratskandidat Roger Köppel, dass in der Schweiz viele Aufnahme finden, die gemäss Genfer Flüchtlingskonvention nicht asylberechtigt sind. Dazu zählen für ihn auch Kriegsflüchtlinge. Anja Klug (48, Bild), seit März Leiterin des Büros des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR für die Schweiz und Liechtenstein, widerspricht dem energisch.

Anja Klug, ist die Genfer Flüchtlingskonvention überholt?

Anja Klug: Nein. Die Konvention ist die Magna Charta des Flüchtlings. Sie definiert, wer ein Flüchtling ist und welche Rechte dieser hat. Zudem untersagt sie, jemanden in seine Heimat zurückzuschicken, wenn ihm dort Gefahr droht – das sogenannte Refoulement-Verbot. Diesen völkerrechtlichen Vertrag haben fast 150 Staaten ratifiziert. Damit ist die Konvention immer noch die Rechtsgrundlage, auf der Millionen von Menschen Schutz erhalten – das ist alles andere als überholt.

Das sieht die SVP anders, wie ihr Nationalratskandidat Roger Köppel derzeit auf allen Kanälen verkündet. Es gebe kaum noch echte Flüchtlinge, das seien alles Wirtschaftsmigranten.

Klug: Herrn Köppels These stimmt einfach nicht. Momentan ist der Anteil der Flüchtlinge recht hoch. Was stimmt, und was ein Problem ist: Wir haben es nie nur mit Flüchtlingen und Schutzbedürftigen zu tun. Natürlich ist es problematisch, wenn Menschen, die keinen Schutz benötigen, das Asylrecht benutzen. Doch die Antwort darauf darf nicht sein, das Recht abzuschaffen. Die Antwort muss sein, eine richtige Auswahl zu treffen. Dazu braucht es faire und effektive Asylverfahren mit schnellen Entscheiden und einer konsequenten Umsetzung bei negativen Entscheiden. Dann lohnt es sich nicht mehr, nach Europa zu kommen, um hier Arbeit zu suchen. Und dann ist das System auch aufnahmefähig für Menschen, die Schutz benötigen.

Gemäss der Konvention ist ein Flüchtling jemand, der individuell und gezielt verfolgt wird. Das trifft auf die wenigsten Menschen zu, die heute flüchten.

Klug: Einspruch! Leider herrscht heute eine falsche Vorstellung: Die meisten, auch manche Experten, haben bei einem Konventionsflüchtling einen Dissidenten im Kopf, also beispielsweise einen chinesischen Oppositionellen, der sich mit dem Regime angelegt hat. Doch das ist falsch, der Flüchtlingsbegriff geht deutlich weiter. Auch meinen viele, dass als Verfolger nur totalitäre Regime in Frage kommen. Dabei findet Verfolgung nicht nur in totalitären Staaten statt, sondern viel häufiger dann, wenn Staaten zerfallen und Krieg ausbricht. Das sieht man derzeit sehr eindrücklich am Beispiel von Syrien, das extrem zersplittert ist.

Aber Moment: In Syrien sind die Menschen nicht Opfer von Verfolgung, sondern Opfer eines Krieges zwischen verschiedenen Gruppen und dem Regime. Krieg aber ist kein anerkannter Fluchtgrund.

Klug: Erstens: In Syrien sind viele Menschen akut gefährdet, etwa weil sie einer religiösen oder ethnischen Minderheit angehören. Auch wer nicht politisch tätig ist oder kämpft, wird so zum Feind für die regional herrschenden Gruppen. Aus Sicht des UNHCR sind die meisten Syrer von Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention bedroht. Zweitens schliesst die Konvention Krieg als Fluchtgrund nicht aus. Das UNHCR erkennt Personen dann «prima facie», also auf den ersten Blick, als Flüchtlinge an. In den Balkan-Kriegen haben viele Staaten ganze Gruppen als Flüchtlinge anerkannt. Es gibt also auf die Konvention gestützte Instrumente, nur wenden die Staaten sie heute sehr zögerlich an.

Dann sehen Sie keinen Handlungsbedarf?

Klug: Ich warne davor, die Konvention leichtfertig in Frage zu stellen. Sie hat sich über 60 Jahre lang bewährt, und eine andere Basis einzuführen, sollte man sich gut überlegen. Denn diese wird wahrscheinlich nicht so umfassend anerkannt sein. Den Menschen, die Schutz brauchen, würde so ein Stück Rechtssicherheit genommen. Aber natürlich ist die aktuelle Diskussion über den Flüchtlingsbegriff nicht völlig falsch. Die Konvention ist kein Allheilmittel, sie hat Lücken.

Welche sind das?

Klug: Die grösste Lücke entsteht durch die zu enge Auslegung heute, wenn etwa gesagt wird, dass Kriegsflüchtlinge keine «echten» Flüchtlinge sind. Da macht man es sich zu einfach. Die zweite grosse Lücke ist, dass einige Regionen die Konvention nicht ratifiziert haben – etwa viele Staaten im Nahen Osten und in grossen Teilen Asiens. Das ist ein Riesenproblem. Und das dritte grosse Risiko ist, dass die Konvention zwar an die Solidarität der Staaten appelliert, aber keine konkreten Mechanismen für die Lastenverteilung in ausserordentlichen Situationen vorsieht. Und dann, da haben Sie recht, setzt die Konvention für die Flüchtlingseigenschaft eine zielgerichtete Verfolgung voraus. Es muss also einen Willen geben, bestimmte Menschen oder Gruppen zu töten, zu foltern, zu verletzen. Doch natürlich gibt es Risiken, die sich nicht gezielt gegen bestimmte Personen richten. Dazu gehören Opfer willkürlicher Gewalt, zum Beispiel in einem Krieg. Diese Leute fallen ebenso wenig unter die Konvention wie Menschen, die allein vor Naturkatastrophen oder Hungersnöten flüchten.

Also braucht es doch eine neue Definition?

Klug: Das UNHCR braucht das nicht, weil wir Rechtsgrundlagen haben, die über die Konvention hinausgehen. Für uns ist auch ein Flüchtling, wer vor willkürlicher Gewalt flieht, vor der ihn sein Staat nicht schützen kann. Übrigens: Nicht nur das UNHCR hat hier entsprechende Instrumente, auch Staatengemeinschaften. So gibt es in der EU für solche Fälle den subsidiären Schutz.

In der Schweiz gibt es das nicht. Bei den Syrern führt das dazu, dass etwa die Hälfte Asyl erhält und der Rest eine vorläufige Aufnahme. Wie beurteilen Sie das?

Klug: Zwei Sachen dazu: Die Flüchtlingsanerkennungsquote für Syrer in der Schweiz entspricht nicht mehr der europäischen Praxis. Überall rundherum sind die Quoten höher. Wir würden uns wünschen, dass die Schweiz hier handelt. Das Instrument der vorläufigen Aufnahme beurteilen wir als sehr problematisch. Es ist ein Auffangbecken für alle möglichen Fälle. Dort landet, wer vor willkürlicher Gewalt flüchtet, aber auch, wer seinen Pass vernichtet hat und darum nicht zurückgeschickt werden kann. Der Titel «vorläufige Aufnahme» behandelt alle gleich und macht nach aussen nicht sichtbar, wer nach Schweizer wie internationalem Recht schutzbedürftig ist. Ausserdem haben Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme eine schlechtere Rechtsstellung, die eine zügige Integration verhindert.

Integration? Die Leute sollen ja irgendwann zurück.

Klug: Wenn die Zeitspanne klar und absehbar ist, mag eine vorläufige Aufnahme gerechtfertigt sein. Doch die Statistik zeigt, dass die meisten vorläufig Aufgenommenen gleich lang bleiben wie Flüchtlinge. Syrien wird dafür ein typisches Beispiel sein. Es wäre besser, dies der Bevölkerung zu erklären und nicht ein Etikett anzuwenden, das nicht stimmt.

Wäre es in einem Fall wie Syrien sinnvoll, die Leute das Asylverfahren gar nicht durchlaufen zu lassen?

Klug: Wir plädieren in der Tat für eine Prima-facie-Anerkennung, wie die Schweiz sie beispielsweise 1956 bei den Ungarn-Flüchtlingen angewendet hat. Aber wir wissen, dass ein solches Vorgehen in ganz Europa kaum Chancen hat. Doch das Beispiel Schweden zeigt, dass es andere Mechanismen gibt. Schweden führt auch bei Syrern Asylverfahren durch, kürzt diese aber massiv ab. Denn es ist jedem klar, dass es einen Unterschied zwischen einem Asylsuchenden aus Syrien und einem aus einem Staat gibt, wo die Gründe, warum die Leute kommen, sehr gemischt sind, da muss man sicher viel genauer hinschauen.

Hinweis

Die Deutsche Anja Klug (48) ist seit März Leiterin des Büros des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR für die Schweiz und Liechtenstein. Sie studierte Recht in Deutschland und in der Schweiz. Anja Klug arbeitet seit über 18 Jahren für das Hochkomissariat.

Experten plädieren für ein neues Asylsystem

Vorschläge fak. Im Gegensatz zum UNHCR halten Migrationsjuristen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr für zeitgemäss. Alberto Achermann, Professor für Migrationsrecht an der Uni Bern, stört sich vor allem daran, dass diese primär auf eine individuelle, gezielte Verfolgung abstelle. «Es war immer klar, dass das nie alle Fluchtbewegungen abdecken kann», sagt er. Zum Teil sei die Schuld aber nicht bei der Konvention zu suchen, sondern bei der Entwicklung der Schweiz. Mit der Flucht der Tamilen in den Achtzigerjahren habe hierzulande eine Verengung des Flüchtlingsbegriffs eingesetzt, die sich bis heute gehalten habe. In diesem Zusammenhang erinnert Achermann daran, dass die Schweiz 1956 Tausende Ungarn als Flüchtlinge anerkannt habe. Für ihn der Beweis, dass der Flüchtlingsbegriff offen genug ist für Massenfluchtsituationen wie jene, die wir heute haben.
«Es versteht doch kein Mensch, dass Syrer rechtlich keine Flüchtlinge sind», kritisiert er den Umstand, dass viele Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland nur eine vorläufige Aufnahme erhalten. Und er verweist auf die Praxis in den Nachbarländern: «Die EU hat mit dem subsidiären Schutz einen Status eingeführt, welcher dem des Flüchtlings einigermassen gleichgestellt ist.» Achermann fordert: «Die Schweiz sollte diese Regelung übernehmen.»

Verschiedene Verfahren
Einen anderen Weg bringt Kay Hailbronner, Leiter des renommierten Forschungszentrums für internationales und europäisches Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz und Ehrendoktor der Universität St. Gallen, auf den Tisch. «Natürlich gibt es auch heute noch individuell Verfolgte, die die Anforderungen erfüllen», sagt er. «Aber eine Mehrheit der Bootsflüchtlinge, mit denen wir es heute zu tun haben, ist das nicht.»
Hailbronner schlägt für Europa ein ganz neues Regime vor. «Zum einen müssen wir ein Verfahren mit Globalaufnahmen schaffen – etwa für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge», fordert Hailbronner. Für andere Herkunftsstaaten, etwa Somalia und Eritrea, könne es jedoch kein Recht auf Aufnahme in ein Asylverfahren geben. Hier sollte man eine Triage vornehmen: Wer kann zurück in seine Heimat? Wenn das wegen des Refoulement-Verbots nicht möglich ist, sollte man versuchen, Übereinkünfte mit Drittstaaten zu treffen, die die Menschen aufnehmen, gegen finanzielle und logistische Unterstützung. Andere Migranten, vor allem junge und gut ausgebildete, sollten die Möglichkeit erhalten, eine allenfalls befristete Aufnahme in Europa zum Zweck der Erwerbstätigkeit zu erhalten. «Mit einem solchen liberalen und den Menschenrechten eher entsprechenden System könnten wir zehnmal mehr echte Flüchtlinge unterbringen und würden auch die Entwicklungschancen der Herkunftsländer nicht untergraben», ist Hailbronner überzeugt.