Bereits seit 1999 muss die italienische Schweiz ohne Bundesrat auskommen. Daran ändert auch der Ausgang der Bundesratswahl vom Mittwoch nichts. Im Tessin reichen die Reaktionen auf die verpasste Chance Norman Gobbis von Enttäuschung bis Erleichterung.
«Wir sind sehr enttäuscht», sagte Daniele Caverzasio auf Anfrage. Der Lega-Fraktionschef im Tessiner Grossen Rat war am Vortag mit seinen Parteigenossen und Tessiner Fanartikeln im Gepäck mit dem Bus nach Bern gefahren.
Die «nationale Einheit» der Schweiz sei abermals nicht respektiert worden. Mit der Wahl eines dritten Lateiners in den Bundesrat seien zudem die Chancen gesunken, dass die italienische Schweiz in der nahen Zukunft in der Landesregierung vertreten sei. Die Entscheidung der SP vom Dienstagabend, Gobbi eine klare Absage zu erteilen, «hat uns allen sehr weh getan», sagte Caverzasio.
Enttäuscht zeigte sich auch der Gemeindepräsident von Quinto TI, Gobbis Heimatgemeinde. Der Tessiner Staatsrat habe sich hervorragend in Bern verkauft und ohne grosses Netzwerk den Wahlkampf gut bewältigt, sagte Valerio Jelmini (FDP) auf Anfrage. Er bedaure, dass sich die Leventina in der Person von Norman Gobbi künftig nicht noch mehr Gehör in Bern verschaffen könne. Gerade bei den grossen Infrastrukturprojekten wie Alptransit oder dem möglichen Bau einer zweiten Röhre am Gotthard-Strassentunnel wäre diese Position von grosser Bedeutung gewesen.
Die Tessiner Kantonsregierung sieht bei der verpassten Wahl Gobbis mehr Licht als Schatten: Die italienische Schweiz habe durch die Kandidatur ihres Staatsratskollegen «verstärkte Aufmerksamkeit» für ihre kulturelle Identität und sozio-ökonomischen Eigenheiten bekommen, schrieb der Vize-Präsident der Regierung Paolo Beltraminelli (CVP) in einem Communiqué. Die Kantonsregierung bedauere zwar, dass Gobbi von der Bundesversammlung nicht berücksichtigt wurde, gratuliert aber zugleich Guy Parmelin zum neuen Amt.
Durchwegs erleichtert zeigt sich dagegen Paolo Bernasconi. Der Tessiner Ex-Staatsanwalt sprach Gobbi im Vorfeld jegliche Regierungstauglichkeit auf nationaler Ebene ab - er wandte sich sogar in einem Brief an die Parlamentarier in Bern, um vor Gobbi zu warnen. Er sei der Bundesversammlung dankbar, dass sie den «politischen Krawallanten» Gobbi nicht gewählt habe, teilte Bernasconi auf Anfrage mit. Mit der Kandidatur Gobbi sei die «Konkordanz, Kollegialität, Mediationsfähigkeit» der Schweiz aufs Spiel gesetzt worden.
Gleiche Töne schlägt Silva Semadeni, Bündner SP-Nationalrätin mit italienischer Muttersprache, an: «Die Lega hat eine politische Kultur in die Schweiz gebracht, die wir nicht gebrauchen können», sagte sie gegenüber dem Tessiner Fernsehen RSI. Der Lega fehle ausserdem die Legitimität, um als Kleinstpartei indirekt über die SVP in die Regierung einzuziehen. Insofern begrüsse sie Gobbis Nicht-Wahl.
sda