Bondo ist erst der Anfang

Gregory Remez
Drucken

Bergell Das kleine Dorf Bondo GR kommt nicht zur Ruhe. Nach erneuten Murgängen in der Nacht auf gestern ist ein grosser Teil des Bergells von der Umwelt abgeschnitten. Ein Murgang am Fuss des Malojapasses verschüttete den Zugang aus dem Engadin ins Tal auf mehreren hundert Metern.

Ein zweiter Murgang in Bondo mitten in der Nacht hatte erneut die Talhauptstrasse überschwemmt. Erstmals walzten sich die Geröllmassen aber weiter über den Bergfluss Maira bis auf die andere Seite des Tales. Dort wurden in der Ortschaft Spino mehrere Häuser beschädigt. Verletzt wurde in der Nacht auf gestern zwar niemand, doch die Lage bleibt angespannt – auch in anderen Schweizer Bergdörfern. Denn gemäss Experten könnte sich der Bergsturz in Bondo – einer der grössten der letzten 100 Jahre – schon bald anderswo wiederholen. Wegen der auftauenden Böden und der schmelzenden Gletscher ist die Gefahr von weiteren Tragödien gross. Besonders die Gletscherschmelze treibt den Geologen Sorgenfalten auf die Stirn. Für sie ist klar: Setzt sich der Rückgang der Gletscher fort, kommt es unausweichlich zu einer Zunahme von Murgängen und Felsstürzen in der Alpenregion.

8 Prozent des Schweizer Bodens sind instabil

Auch für den Bergsturz am Piz Cengalo oberhalb von Bondo war vor allem die starke Gletscherschmelze am Fuss des Berges verantwortlich. Durch den Rückgang des Eises verlor der Berg seine Stütze und wurde instabil. Eine Gefahr, wie sie im Schweizer Gebirge omnipräsent ist: Gemäss neuen Zahlen des Bundesamts für Umwelt (Bafu) beläuft sich der flächenmässige Anteil instabiler Gebiete in der Schweiz insgesamt auf 6 bis 8 Prozent. Fast ein Zwölftel des Schweizer Bodens ist also aktuell in Bewegung. Diese Gebiete liegen hauptsächlich im voralpinen und alpinen Raum. Sie finden sich aber auch in flacheren Regionen wie Jura und Mittelland.

Wo der nächste Felssturz niedergehen wird, ist schwierig vorherzusagen. Viele Faktoren spielen eine Rolle. Wie akut die Gefahr ist, lässt sich an den ­immer schärferen Präventionsmass­nahmen in den Risikogebieten ablesen. So gibt es schweizweit rund 100 Stationen, die rutschgefährdete Hänge mit Sensoren überwachen. Die meisten stehen in den Kantonen Wallis, Graubünden und Bern. Hinzu kommt rund ein Dutzend Murgang-Warnanlagen, wie sie in Bondo im Einsatz sind. Die erste und bekannteste wurde zu Forschungszwecken im Illgraben im Pfynwald bei Leuk VS eingerichtet. Dort würden im Ernstfall der Campingplatz und ein Teil des Dorfes evakuiert. Weitere Anlagen stehen im Schipfenbach in Silenen UR oder im Spreitgraben BE.

Moosfluh – der am besten überwachte Hang der Schweiz

Exemplarisch für die heikle Situation in der Schweiz sind die jüngsten Massnahmen beim Aletschgletscher oberhalb der Riederalp VS. Beim grössten Gletscher der Alpen finden zurzeit die schweizweit grössten Felsverschiebungen statt. Mindestens 150 Millionen Kubikmeter Fels sind in Bewegung. Zum Vergleich: Bei Bondo donnerten knapp 4 Millionen Kubikmeter ins Tal. Das Bafu hat deshalb zusätzlich zu den bereits vorhandenen Überwachungssystemen kürzlich zwölf sogenannte Geofone angebracht – Geräte, die jede Erschütterung registrieren. Das macht die Moosfluh zu dem am besten überwachten Hang der Schweiz. Bräche dieser ab, käme es zu einem gigantischen Bergsturz, der um einiges grösser wäre als jener in Bondo. Der einzige Lichtblick: Ein Bergsturz würde in das vom Aletschgletscher geformte Tal stürzen und das Dorf Riederalp verschonen.

Gregory Remez