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Schweiz
Bäcker, Metzger und Käser haben ein Nachwuchsproblem, und es wird immer grösser. Die Pfeiler der Schweizer Esskultur wanken – und die Branche wehrt sich mit Händen und Füssen dagegen.
Dominic Wirth
So schnell wird er das Blut nicht los, es verfolgt in auf Schritt und Tritt, das ist auch an diesem Tag in Dagmersellen so. Dabei hat Markus Roten doch vor allem ein Ziel: es endlich loswerden. Denn es macht seine Mission noch komplizierter, als sie sowieso schon ist. Roten, grauer Kinnbart, entschlossener Händedruck, ist der Mann, der den Schweizer Metzgern neuen Nachwuchs bringen, man könnte auch sagen: sie retten soll. Das Blut ist dabei sein grösster Gegner.
An diesem Morgen ist er in die Innerschweiz gefahren, zur Metzgerei Willimann, gleich gegenüber steht das Gasthaus Rössli. Nun sitzt er im Pausenraum an einem Holztisch, auf dem Stuhl gegenüber die Lehrtochter, und im Raum steht schon wieder die Sache mit dem Blut. «Ein, zwei Kinder sind erschrocken, als ich sagte, dass ich Metzgerin bin», erzählt die junge Frau. Vor kurzem hat sie sich vor eine Oberstufenklasse gesetzt, um für ihren Beruf zu werben, nun bespricht sie mit Roten, was gut gelaufen ist und was weniger. «Ich habe dann gesagt, dass ich noch nie einen Tropfen Blut gesehen habe», erzählt sie. Markus Roten nickt zufrieden. «Das Bild vom blutigen Metzgerberuf ist völlig veraltet, wir müssen es loswerden», sagt er.
An der Wand hinter Roten hängt ein Plakat, «Schweizer Meisterinnen im Fleischplattenlegen» steht darauf geschrieben, darunter strahlen Angestellte der Metzgerei Willimann um die Wette. Seit 160 Jahren gibt es den Betrieb schon, und die Willimanns pflegen die lange Tradition mit einigem Stolz. Sogar ihre eigene Jubiläumszeitung haben sie gedruckt, und eigentlich läuft alles gut: Die Kunden kommen, ein Umbau steht an, der Chef wurde zum Lehrmeister des Jahres 2017 gekürt. Doch das ändert nichts daran, dass sie in Dagmersellen ein Problem haben: Die Suche nach dem Nachwuchs ist ein Kampf, und er wird immer schwieriger. Früher hatten sie fünf, sechs, sieben Lehrlinge pro Jahr. Jetzt würden sie sich mit vier begnügen. Doch gefunden haben sie erst einen.
Die Willimanns sind nicht allein. Im ganzen Land tun sich die Metzgereien schwer damit, Nachwuchs zu finden. Vor zehn Jahren lernten 803 Stifte den Metzgerberuf; 2016 waren es noch 578. Und was für die Metzger gilt, gilt auch für andere Essberufe, die Bäcker etwa oder die Käser, die heute Milchtechnologen heissen. 2006 traten noch 1118 Lehrlinge ihre Ausbildung zum Bäcker-Konditor oder Konditor-Confiseur an, zwei Jahre später waren es gar 1326, im Jahr 2016 aber nur noch 693. Bei den Milchtechnologen sind die Zahlen zwar stabiler, doch auch dort reicht der Lehrlingsbestand nicht: Der Schweizerische Milchwirtschaftliche Verein (SMV)will deutlich mehr ausbilden. Und so gilt für Fleisch, Brot und Käse, für Pfeiler der Schweizer Esskultur, letztlich dasselbe: Sie sind ins Wanken geraten, weil ihnen der Nachwuchs fehlt. Es gibt heute immer weniger junge Leute, die Brot backen, Käse herstellen oder wursten wollen.
Der Termin von Roten in Dagmersellen ist vorbei, jetzt sitzt der 57-Jährige in seinem Auto, neben der Strasse stehen Bauernhöfe auf grünen Wiesen. Roten hat einst selbst Metzger gelernt, lange bevor aus ihnen Fleischfachmänner wurden, weil das, nun ja, weniger nach Blut klingt. Später hat es den Walliser in den Kanton Nidwalden verschlagen. Lange hat er dort einen eigenen Betrieb geführt, doch irgendwann wollte er etwas anderes machen. Jetzt trägt er Hemd und Turnschuhe statt der weissen Schürze. Er verkauft kein Fleisch und auch keine Würste mehr. Sondern den Beruf des Metzgers. Seit zwei Jahren ist er in einem 50-Prozent-Pensum der Nachwuchsrekrutierer des Schweizer Fleisch-Fachverbands, der erste überhaupt.
Und so kurvt Roten durch die Schweiz. Gibt Lehrlingen vor Besuchen in Schulklassen Ratschläge und ihren Chefs beim Konzept für den Stand an der nächsten Berufsmesse. Roten ist ein Mann, der gerne von Visionen und Ideen spricht. Etwa jener, die Nachwuchsnöte der Branche aufzufangen, indem man Flüchtlingen den Metzgerberuf schmackhaft macht. Aber es gibt auch Momente, in denen ihn die Grösse seiner Aufgabe beinahe überrollt. «Das ist schon sehr ernüchternd», sagt er, als er gerade im Luzerner Zentrum für Brückenangebote sitzt. Selbst hier, wo die Unentschlossenen und schwer Vermittelbaren landen und sich Roten den einen oder anderen Praktikanten erhofft, will sich laut dem Zentrumsleiter kaum ein Jugendlicher auch nur damit befassen, Metzger zu werden.
Es ist ein schwieriger Kampf, den Roten führt, und letztlich geht es für ihn dabei um nichts weniger als die Zukunft der Schweizer Metzgertradition. «Wir brauchen junge Berufsleute, die nachrücken, sie sind das Fundament», sagt er. Schon heute gingen viele Betriebe ein, weil sich niemand findet, der sie übernimmt. «Und dann gehen weitere Lehrstellen verloren. Es ist ein Teufelskreis», sagt Roten, und an dessen Ende droht für ihn statt der Fleischvielfalt die Einheitswurst vom Grossverteiler.
Das Problem mit dem Blut hat Hans Aschwanden nicht. Bei ihm dreht sich alles um die Milch, und die hat es einfacher in der Schweiz. Doch das heisst nicht, dass Aschwanden keine Sorgen hätte. Der Urner sitzt in seiner Käserei in Seelisberg, einem Dorf hoch über dem Vierwaldstättersee. Hinter einer Glasscheibe hantieren weissbeschürzte Männer und Frauen an einem Kessel. Aschwanden strahlt etwas Gemütliches aus, doch er ist ein Mann mit grossen Plänen. Der Präsident des Schweizerischen Milchwirtschaftlichen Vereins will die Zahl der Milchtechnologie-Lehrlinge von 375 auf 500 erhöhen. «Wir müssen etwas machen, denn wir haben zu wenig Nachwuchs», sagt Aschwanden.
Kürzlich hat Emmi auf 1,8 Millionen Verpackungen einen Milchtechnologen-Werbespot gedruckt. Die Kampagne ist ein Beispiel dafür, wie viel die Branchenverbände mittlerweile unternehmen, um Lehrlinge auf ihren Beruf aufmerksam zu machen. «Früher waren die Eltern froh, wenn ihre Kinder eine Lehrstelle fanden. Heute können die Kinder aussuchen», sagt Hans Aschwanden. Längst tobt ein Kampf um jene, die es nicht an die Kanti zieht. Er wird mit bunten Ständen an Berufsmessen ausgefochten, an den Schulen – und natürlich auch dort, wo die Jungen heute so gerne sind, im Internet. Die Milchtechnologen etwa haben schöne Videos auf ihre Website geschaltet, die Metzger setzen auf einen englischen Slogan – «Swiss Meat People» – und haben ihren Internetauftritt mit vielen Hashtags garniert. Auch auf Facebook sind beide präsent.
Hans Aschwanden, der oberste Schweizer Käser, ist stolz auf sein Gewerbe. Wenn er über das Käsen spricht, dann macht er das mit leuchtenden Augen, er sagt: «Die Schweiz und der Käse, das gehört zusammen. Wir müssen alles daransetzen, das zu erhalten.» Doch Aschwanden macht auch keinen Hehl daraus, dass ihm der Lehrlingsmangel Sorgen macht und der Trend zur Matura, der das Land erfasst hat. Seit dem Jahr 2000 ist die Quote von 25,7 auf 38,6 Prozent angestiegen. Die Käser, Metzger und Bäcker gehören zu den Leidtragenden dieser Entwicklung, und mit ihnen viele andere Handwerksberufe.
Im SMV-Vorstand diskutieren sie darüber, ob sie mehr Geld in die Hand nehmen müssen, um für Lehrlinge attraktiver zu werden. Doch Hans Aschwanden glaubt nicht, dass es damit getan ist. «Viele Eltern betrachten die Lehre heute als etwas Minderwertiges», sagt er, «dagegen müssen wir etwas unternehmen. Wir müssen aufzeigen, dass der akademische Weg nicht immer der Königsweg ist.» Aschwanden sorgt sich um das duale Bildungssystem, von dem alle so gerne schwärmen, das aber in seinen Augen in der Gesellschaft immer weniger abgestützt ist. Er hat ein paar Ideen, wie sich das ändern lässt, vor allem in der Volksschule soll stärker für die Lehre geworben werden. Das, hofft Aschwanden, könnte einen Gegentrend zur Lehre auslösen. Und darauf, so viel steht fest, sind Bäcker, Käser und Metzger angewiesen.