Schweden Der Fall in der Schwedischen Akademie riss die Institution Literaturnobelpreis in eine Krise. 18 Frauen hatten über sexuelle Übergriffe eines bekannten Fotografen berichtet. Der Beschuldigte habe «Mitglieder, deren Töchter, Ehefrauen sowie Personal» belästigt. Mittlerweile gibt es auch Anzeigen wegen Vergewaltigung – doch erst jetzt. Wie in den meisten Fällen der «MeToo»-Kampagne geben die Opfer an, sie hätten aus Angst und Scham lange nicht gewagt, aufzubegehren.
Dieses Bild wiederholte sich in Schweden, wo «MeToo» einen Sturm ausgelöst hat, tausendfach. Es gab auch hier die bekannten Fälle: Mehrere Medienchefs wurden wegen Vorwürfen entlassen, ein Komiker wurde angezeigt, Politiker traten zurück. Doch mindestens so wichtig war die Breite der Kampagne: Über Wochen wurden fast täglich neue Protestschreiben aus fast allen Berufsgruppen veröffentlicht. Insgesamt haben über 70 000 Frauen unterzeichnet, und jeder Aufruf wurde von Hunderten Berichten zu Übergriffen begleitet. Erst waren es Schauspielerinnen, dann Musikerinnen, Studentinnen, Politikerinnen, Lehrerinnen, Frauen aus medizinischen Berufen oder dem Gastgewerbe. Viele berichten nicht nur vom Job, sondern auch aus dem privaten Umfeld; ein Teil der Missbräuche geschah vor langer Zeit, in der Kindheit – viele wiederholten sich später.
Schweden fragt sich nun, warum sexuelle Belästigung so sehr ein Problem ist – in einem Land, das sowohl in internationalen Rankings wie auch in Umfragen bezüglich Gleichstellung zur Spitze gehört. Dies gilt auch für die skandinavischen Nachbarländer, doch dort erreichten die Reaktionen und Protestaufrufe nicht das gleiche Ausmass.
Analysen in Schweden zeigen, dass Demütigungen und Übergriffe keinesfalls neu sind, also nicht etwa mit der Flüchtlingswelle der vergangenen Jahre entstanden, wie dies rechtsradikale Kreise behaupten. Vielmehr gab es seit den 70er-Jahren immer wieder Proteste, seit die Frauen in grosser Zahl in den Arbeitsmarkt kamen. Später folgten mehrere Kampagnen, die jedoch wieder abflauten. Es zeige sich, wie schwierig es für die allermeisten Frauen sei, «aus der Verschwiegenheit herauszukommen», sagte die Politologin Drude Dahlerup der Zeitung «Dagens Nyheter»: «Es ist erforderlich, dass sie ernst genommen werden, und dass man die strukturellen Probleme erkennt.» Sie und andere glauben, dass erst jetzt die Grundlage stark genug ist, nach Jahren, in denen sich die Politik für Gleichberechtigung einsetzte und sich die links-grüne Regierung «feministisch» nennt. Der hohe Grad der Gleichstellung führe zum Aufschrei.
Die Regierung hat ebenfalls reagiert und einen seit längerem geplanten Gesetzesvorschlag zur Verschärfung des Sexualstrafrechts präsentiert. Neben höheren Strafen enthält er auch eine zwingende Zustimmung beider Partner zu Sex; das kann verbal oder mit Körpersprache sein. Ähnliche Regelungen kennen auch Kanada, Kalifornien und England, mit dem Ziel, Übergriffe zu definieren. Die Erfahrungen zeigen allerdings, dass Sexualität sich weiterhin in Graubereichen bewegen kann, auch rechtlich, zumal meist Aussage gegen Aussage steht. Viele Schwedinnen hoffen, dass «MeToo» unabhängig von Gesetzesänderungen für einmal wirklich nachhaltig etwas ändert – und sehen die Voraussetzungen dafür gegeben. «Eine soziale Revolution im Verhältnis zwischen Mann und Frau», erhofft sich Politologin Dahlerup. Laut einer repräsentativen Umfrage glauben mittlerweile 70 Prozent der schwedischen Bevölkerung, dass sich dank «MeToo» eine gesellschaftliche Veränderung ergibt. Dies sei, so Brit Stakston, ein wichtiger Unterschied zu anderen Ländern, nicht zuletzt zu den USA.
Nils Anner, Kopenhagen